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086 – „Regeln“ von Lorraine Daston
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Regeln durchziehen nicht unsere modernen Gesellschaften, sondern sind schon immer Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Doch ihre Bedeutung und Interpretation hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Diesem Wandel geht Lorraine Daston in ihrem Buch Regeln – eine kurze Geschichte nach: Sie beschreibt unterschiedliche Arten von Regeln – dicke und dünne oder lokale und universelle – und spürt besonders einem Verständnis von Regeln nach, das wir heute verloren zu haben scheinen: den Regeln als Modelle, die wir nachahmen und an denen wir uns orientieren.
Shownotes
- Lesenotizen Nils zu „Regeln“ von Lorraine Daston
- ZZD008: „Objektivität“ von Lorraine Daston und Peter Gallison
- ZZD020: „Vereindeutigung der Welt“ von Thomas Bauer
- ZZD049: „Collapse of Chaos“ von Ian Stewart und Jack Cohen
- ZZD059: “Todesalgorithmus” von Roberto Simanowski
- ZZD081: „Die Unterwerfung“ von Phillip Blom (Lesenotizen Nils)
- Buch: „The Eye of the Master“ von Matteo Pasquinelli (Lesenotizen Nils)
- Buch: „Brauchbare Illegalität“ von Stefan Kühl
- Podcast: “Lorraine Daston – Die Regeln unseres Lebens” Sternstunde Philosophie
- Buch: “Against Nature” von Lorraine Daston
- Artikel: “Rule-Following and Intentionality” (aus der Stanford Encyclopedia of Philosophy zum Regelfolgenparadox von Wittgenstein)
- Artikel: “The Tyranny Of Time” von Joe Zadeh im Noema Mag
- Buch: “Materialfluss – Eine Geschichte der Logistik an den Orten ihres Stillstands” von Monika Dommann
- Blogartikel: “Interesting problems: The Church-Turing-Deutsch Principle” (Blogartikel von Michael Nielsen zum Problem, ob jeder physikalische Prozess von einem universellen Rechner simuliert werden kann)
Quellen und Co
Intro und Outro der Episode stammen aus dem Stück Maxixe von Agustin Barrios Mangore, eingespielt von Edson Lopes (CC-BY).
Das Umblättern zwischen den Teilen des Podcasts kommt hingegen von hoerspielbox.de.
Zwischen zwei Deckeln findest du auch im sozialen Medium deiner Wahl: Mastodon, Instagram und Facebook.
Transkript (automatisch erstellt)
Amanda:
[0:16] Hallo zusammen, ich begrüße euch zur Folge 86 von Zwischen zwei Deckeln. Einem Podcast, in dem wir euch alle drei Wochen ein Sachbuch vorstellen. Und die, die uns schon kennen, wissen, dass wir das nicht alleine machen oder dass ich das nicht alleine mache, sondern wir sind immer zu zweit. Heute mit mir, Amanda, und mit Nils.
Nils:
[0:33] Hallo zusammen.
Amanda:
[0:35] Ja, das ist die erste Folge im Jahr 2025. Die letzte Folge war das Weihnachts- oder wie habt ihr es genannt? Neujahrs-Special oder End of the Year. Jahresabschluss-Special, genau. Und jetzt starten wir wieder mit einem Sachbuch. Ich bin schon sehr gespannt, weil es ist tatsächlich ein Buch, was ich schon zweimal angefangen habe zu lesen, einmal auf Englisch und einmal auf Deutsch, und ich bin nie über das Vorwort oder erste Kapitel hinausgekommen. Deswegen nutze ich sehr gerne die Gelegenheit, dir dabei zuzuhören. Und ich stelle das auch gleich vor, was du uns hier präsentieren wirst heute. Was mich inzwischen beschäftigt oder im Moment beschäftigt, ist etwas etwas Banaleres. Und zwar habe ich letztens von New Adult Romanen gehört, weil das so ein Trend ist auf TikTok.
Nils:
[1:23] Oh Gott. Wohl.
Amanda:
[1:24] Ich habe weder TikTok noch kenne ich mich da mit diesem Genre aus. Aber ich habe jetzt so eine Ausleihe, so einen E-Book-Ausleihe von der Bibliothek begonnen. Und da gab es die auszuleihen, so ein paar von diesen Trend-Büchern. Und da habe ich mich jetzt ein bisschen reingelesen. Und es ist ziemlich, ich sag mal, seicht, aber passt ganz gut, weil ich habe ein neugeborenes Zuhause und bin da um vier Uhr morgens nur mit irgendwie einem Bruchteil meiner Gehirnzellen dabei und deswegen ist das jetzt Literatur, die ich mir geradezu gemühte für. Im Moment ist das ein Buch von, ich weiß gar nicht, wie man die Autorin ausspricht, Mars ist der Nachname. Sarah J. Mars. Sarah J. Mars, ah, kennst du?
Nils:
[2:07] Ja, Autorin, ja, ich habe nichts von ihr gelesen, Aber sie ist gerade so einer der ganz großen Namen in dem Bereich.
Amanda:
[2:12] Genau, ja. Und ich kannte das nicht. Und das Buch oder die Reihe heißt Das Reich der sieben Höfe. Und da bin ich jetzt, das ist auch ewig lang. Deswegen, ich habe bisher ein Prozent davon gelesen, gemäß meiner App. Deswegen kann ich noch gar nicht viel darüber sagen. Ist das ein Prozent der ganzen Reihe? Ja, ja. Also in einem E-Book? Ja, das scheint so, ja.
Nils:
[2:33] Okay, oh Gott.
Amanda:
[2:35] Also da tausende von Seiten, von iPhone-Seiten. Mal schauen, wie sich das entwickelt mit diesem Genre, ob mir das gefällt oder nicht.
Nils:
[2:45] Selbst mit nur wenigen Gehirnzellen bleibst du dem Hobby treu. Sehr schön.
Amanda:
[2:50] Wie sieht es bei dir aus?
Nils:
[2:52] Bei mir geht es tatsächlich gerade, ähnlich wäre gnadenlos übertrieben zu sagen, mein Neugeborener ist schon fünf, aber ich grabe mich gerade noch so ein bisschen aus dem Winterloch, aus den Winterferien irgendwie mental so hervor. Und deswegen gerade noch nicht so konzentriert wieder irgendwas am Tun, am Machen. Ich habe aber vor Weihnachten noch ein Buch zu Ende gelesen, was, glaube ich, auch mein nächstes Buch dann hier im Podcast sein wird. The Eye of the Master von Matteo Pasquinelli. Das ist im Grunde so eine Kulturgeschichte der künstlichen Intelligenz. Ja, weiß ich nicht. Also es ist schwer zusammenzufassen. Es ist irgendwie so eine Automatisierung von Arbeit, Kapitalismus, Technologie, all diese Dinge irgendwie zusammengebracht. Und das habe ich gelesen. Da bin ich jetzt gerade dabei, das ein bisschen für mich aufzubereiten, so in meinem Blog und sowas, um das da reinzuschreiben. Aber wie gesagt, am meisten bin ich jetzt gerade wieder am Arbeiten und irgendwie wieder wach werden nach der Winterpause.
Amanda:
[3:48] Okay, das klingt aber spannend für die nächste Folge auf jeden Fall.
Nils:
[3:51] Ja, also nicht die nächste Folge, für meine nächste Folge. Das wird noch ein paar Wochen oder Monate dauern.
Amanda:
[3:58] Sehr schön. Ja, jetzt zuerst mal das Buch, was du heute vorstellen wirst. Das ist Regeln von Lorraine Destin. Das ist ein Buch, das ist 2023 erschienen. Ich glaube, sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch im selben Jahr. Und Destin ist eine amerikanische Historikerin, Wissenschaftshistorikerin, die aktuell aber auch in Berlin arbeitet. Ich glaube, sie leitet das Institut für Wissenschaftsgeschichte.
Nils:
[4:26] Und Max-Planck-Institut, genau.
Amanda:
[4:28] Genau, das Max-Planck-Institut und hat auch ein paar, also ich finde, ziemlich bekannte Bücher geschrieben. Und das Neueste, oder nicht, vielleicht nicht mal ganz das Neueste, ist eben dieses Regeln. Magst du uns da gleich das TLDL geben?
Nils:
[4:44] Ja, sehr gerne doch.
Nils:
[4:50] Regeln durchziehen nicht nur unsere modernen Gesellschaften, sondern sind schon immer grundlagemenschlichen Zusammenlebens. Doch ihre Bedeutung und Interpretation hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Diesem Wandel geht Lorraine Destin in ihrem Buch Regeln eine kurze Geschichte nach. Sie beschreibt unterschiedliche Arten von Regeln, dicke und dünne oder lokale und universelle und spürt besonders einem Verständnis von Regeln nach, das wir heute verloren zu haben scheinen, den Regeln als Vorbildern oder Paradigmen, die wir nachahmen und an denen wir uns orientieren.
Amanda:
[5:24] Okay, ich bin gespannt. Ich lasse dich einfach mal beginnen.
Nils:
[5:30] Ja, dann beginne ich einfach mal. Es ist tatsächlich gar nicht so ein langes Buch. Ich habe auch ein bisschen gebraucht, um reinzukommen. Also ich kann deinen ersten Impuls so ein bisschen nachvollziehen am Anfang vom Vorwort oder den ersten Seiten so ein bisschen zurückzuprallen quasi. Aber im Endeffekt ist es dann wirklich sehr, sehr ergiebig, auch gerade im Anschluss an das letzte Buch, was ich auch hier im Podcast vorgestellt habe, die Unterwerfung von Philipp Blom. Da fand ich viele so Anschlussmöglichkeiten. Deswegen passt es, glaube ich, jetzt hier auch ganz gut rein. Lorraine Destin fängt an, oder das ganze Buch durchzieht, so eine Unterscheidung von drei verschiedenen historischen Verständnissen von Regeln. Wobei man da jetzt erstmal gucken muss, dass sie auf Englisch schreibt, das heißt, bei ihr sind es Rules und da ist es ein bisschen eindeutiger, warum die drei, warum das drei sind und nicht nur zwei. Das erste, was sie nämlich hat, was dann im Buch aber auch eine untergeordnete Rolle spielt, deswegen ist diese Inkonsistenz nicht ganz so schlimm, ist das Messen.
Nils:
[6:33] Also Dinge zu messen, Dinge zu standardisieren in gewisser Maße, also zu sagen, was ist ein Meter, da irgendwie gemeinsame Maßstäbe zu finden und so weiter und so fort. Oder überhaupt erstmal auch auf die Idee zu kommen, im Grunde Dinge auf so eine Weise zu messen. Das ist ein sehr antikes Projekt, tatsächlich. Und das funktioniert eben im Englischen mit Rule, funktioniert das irgendwie intuitiver. Da gibt es ja auch den Ruler, also das Lineal. Im Deutsch mit den Regeln ist das irgendwie nicht so ganz intuitiv, dass das auch ein Verständnis ist. Aber es ist ohnehin das, was auch in ihrem Buch eigentlich, was sie zwar rekonstruiert, irgendwie ein Kapitel, was dann aber eigentlich keine Rolle mehr spielt, deswegen werde ich es hier auch im Podcast halbwegs außen vor lassen. Und dann kommen die zwei anderen Relevanten, die sie so ein bisschen historisch in der Abfolge verortet, nämlich einmal dieses Verständnis, das ist das, was ich gerade schon im TLDL auch hatte, von Regeln als Vorbilder oder Paradigmen.
Nils:
[7:38] Und einmal die Idee von Regeln eben tatsächlich als Gesetze. Also als irgendwelche universal gültigen Aussagen, die entweder Universalgültigkeitsanspruch haben oder halt irgendwie, wie jetzt rechtliche Gesetze irgendwie sagen, das gilt jetzt auf einem gewissen Gebiet oder für eine gewisse Zeit oder sowas. Also das sind diese beiden Perspektiven, wir gucken uns die gleich im Detail noch genauer an. Und dann sind für sie auch noch zwei Arten von Welt so ein bisschen relevant im Gegensatz. Das ist einmal eine Welt, also Welt im Sinne von, ja, worin diese Regeln sich bewegen, worin diese Regeln gelten, was diese Regeln versuchen zu kontrollieren. Das ist einmal eine komplexe, vielfältige, dynamische Welt und einmal eine stabile, berechenbare, standardisierte Welt.
Nils:
[8:30] Das sind so die zwei Unterscheidungen, die sie aufmacht, wobei die mit den Regeln im Grunde die ist, um die es ihr geht und die andere, die greift sie nur auf, um das so ein bisschen zu vereinfachen. Das wird jetzt gleich in meiner Vorstellung aber auch immer mal wieder auftauchen und miteinander interagieren.
Nils:
[8:47] Ich hatte gerade schon noch eine weitere Unterscheidung genannt, die im TLDL zwischen dicken und dünnen Regeln, das ist vielleicht auch die erste, mit der wir mal anfangen, oder beziehungsweise mit den dicken Regeln. Das ist was ähnliches oder anders angefangen. Dicke Regeln bezeichnen sich dadurch aus, dass es nicht nur die Regel selber ist, sondern dass diese Regel sehr, sehr komplex ist, dass sie viele Ausnahmen, viele Erläuterungen, Fallunterscheidungen, Beispiele, Analogien, verbundene Geschichten und so weiter haben. Also man kann sich darunter sowas vorstellen, wie zum Beispiel eine religiöse Lehre. Die jetzt nicht so ihre Gesetze in dem Sinne hat, aus A folgt B, sondern die eben eher in Metaphern, in Bildern, in Vorbildern, in Geschichten, in Analogien und so weiter agieren. Und dann haben wir eben dünne Regeln. Dünne Regeln sind die Regeln, wie wir sie heute zum Beispiel aus Gesetzen kennen oder wie wir sie kennen aus den Naturwissenschaften ganz viel. Das ist halt eine Regel, das ist diese eine Formel oder dieser eine Satz oder dieser eine Zusammenhang und der gibt uns sozusagen an, was passiert, was zu passieren hat oder auch wie wir irgendetwas verstehen oder interpretieren sollen.
Amanda:
[10:05] Okay.
Nils:
[10:06] Also dicke Regeln sind halt dicke, also ich habe mir das mal so vorgestellt, dicke Regeln sind dicke Bücher und dünne Regeln sind halt so kleine Sätze. Diese Unterscheidung mappt jetzt in dem wie ich das vorstellen möchte relativ stark auf diese beiden Verständnisse von Regeln also die einmal Regeln als Vorbilder und Paradigmen und einmal Regeln als Gesetze ist jetzt vielleicht in der Vorstellung der Unterscheidung schon klar geworden und ich möchte jetzt mal mit dieser Idee von Regeln als Vorbilder und Paradigmen anfangen sie nennt das im Englischen Models und Paradigms Aber Model würde ich jetzt im Deutschen eher nicht als Modell übersetzen, sondern eher als Vorbild. Ich weiß tatsächlich gar nicht, wie das die offizielle deutsche Übersetzung tut, weil ich das englische Buch gelesen habe. Aber ich verwende hier den Griff Vorbilder. Also falls ihr das im englischen, das deutsche Buch gelesen habt und es da Modelle heißt, dann sind das Modelle im Sinne von Vorbildern, von Models, an denen man sich orientiert. Nicht Modelle im Sinne von irgendwelchen abstrakten Modellierungen sozusagen.
Nils:
[11:11] Und was diese Paradigmen und Vorbilder auszeichnet, ist, dass diese Art, über Regeln zu denken, oder diese Art von Regeln, sowohl allgemeine als auch konkrete Ebenen abdecken kann. Was heißt das genau? Sie kommt mit einem Beispiel, was ich ganz spannend fand, wo ich jetzt inhaltlich relativ wenig Ahnung habe. Ich gebe das jetzt mal so wieder, wie sie das genannt hat. Sie nennt zum Beispiel den klassischen mittelalterlichen Abt in einem Kloster da als ein sehr gutes Beispiel, weil der im Grunde zwei Rollen hat. Der hat auf der einen Seite die Rolle selber als Vorbild zu agieren also, er, die Weise wie er agiert gerade was Glauben angeht was die Arbeit im Kloster angeht, was sein Verhalten angeht das ist nicht nur halt wie er agiert sondern er hat auch explizit die Rolle dass andere ihn nachahmen, dass andere so handeln wie er handelt dass sie sich von ihm Entscheidungswege Entscheidungskriterien abgucken.
Nils:
[12:09] Und so weiter Das ist das eine, das ist dieser Vorbildaspekt. Und dann kommt dieser Paradigmenaspekt, dass er eben auch Entscheider ist, der eben in diesem komplexen religiösen Regelwerk Entscheidungen trifft oder auf Grundlage dieses Regelwerks Entscheidungen trifft. Aber dieses Regelwerk ist halt kein Regelwerk nach dem Prinzip, wenn A, dann B, sondern ist das ein komplexes Geflecht. Ich habe diese Reihe von Dingen gerade schon mehrfach genannt aus Analogien, aus Parabeln, aus Geschichten, aus Beispielen, aus doch vielleicht auch Glaubenssätzen, aus Ausnahmen, aus Illustrationen, aus Bildern, was auch immer. Also es ist so eine ganz komplexe Sammlung an Dingen im Grunde. Vielleicht auch ab und an mal irgendwie so ein Satz, nur du sollst nicht, so was haben wir ja durchaus auch.
Nils:
[13:00] Aber all diese Dinge sind halt nicht in sich widerspruchsfrei. Das ist ja auch was, was man Religion gerne vorwirft, gerade zu den religiösen Regeln, dass die irgendwie in sich völlig widersprüchlich werden und nicht miteinander Einklang zu bringen wären. Das ist, so wie Destin das hier vorstellt, eigentlich gar nicht so schlimm oder kein grundlegendes Problem des Systems, weil es eben nicht darum geht, wie wir das heute kennen, für jede Situation eine konkrete Entscheidungsregel vorzugeben. Also wie ein Richter, der sozusagen im Gesetz nach dem Fall sucht und dann sagt, okay, das ist dieser Fall und daraus folgt jetzt diese Entscheidung, diese Strafe oder diese Verhaltensvorschrift, was auch immer, sondern es ist immer die Person, die in einer konkreten Situation eben mehr oder weniger alles über diese Situation weiß, also das Konkrete weiß und einen großen Teil dieses abstrakten, teilweise auch konkreten Regelwerkes im Hintergrund hat. Und im Grunde in der Kombination aus diesen beiden Dingen eine Entscheidung trifft.
Amanda:
[14:04] Okay.
Nils:
[14:05] So, das heißt, was ein Begriff ist, der da in dem Bereich ganz groß ist, den nennt Lorraine Destin interessanterweise gar nicht, aber das wäre das, was wir heute Ermessen nennen. Wo man sagen würde, das ist eine Ermessensentscheidung, also wo man irgendwie sagen kann, da kann das Amt zum Beispiel so oder so handeln. Das spielt hier eine viel, viel zentralere Rolle. Weil es eben nicht diese Standardregel gibt, sondern der Abt in der konkreten Situation immer in der Lage ist zu entscheiden, okay, welche Regel wiegt jetzt gerade schwerer, mit welcher Situation in der Schrift lässt sich das vergleichen, wie ist diese Situation, wie ist diese Geschichte in den letzten Jahrzehnten irgendwie ausgelegt worden, was ergibt sich daraus? Gibt es hier vielleicht irgendwie eine konkrete Grund davon, auch mal eine Ausnahme zu machen? Beispielsweise aus einer persönlichen Situation, aus einer Konstellation von unglücklichen Umständen oder ähnlichem. Das ist das, was hier auf einmal eine ganz starke Rolle spielt. Das wirkt für uns heute so ein bisschen fremd. findest du?
Amanda:
[15:14] Das finde ich nicht es klingt so ein bisschen dialektisch man hat wie zwei man macht die Synthese aus dem Konkreten und nimmt das abstrakte was dazu das man im Hintergrund hat und dann trifft man eine Entscheidung, wieso findest du das fremd?
Nils:
[15:30] Ja stimmt das ist ein guter Punkt, ich glaube es ist fremd, wenn man es auf sowas anwendet wie ein Rechtssystem.
Amanda:
[15:37] Aha, ja.
Nils:
[15:38] Also wenn man sagt, es ist irgendwie eine richterliche Entscheidung zum Beispiel basiert darauf, dann würde man ja jetzt doch schnell dahin kommen zu sagen, das hat viel von Willkür, weil eben diese eine Person entscheiden kann, welche Regel jetzt gilt, so ungefähr, oder ob jetzt vielleicht doch eine Ausnahme möglich ist oder so. Andererseits sind das auch genau die Punkte, wo wir ja mit unserem Rechtssystem immer mal wieder hadern sozusagen, weil es genau diese Dinge nicht erlaubt. Ja, okay. Also ja, stimmt, so für sich selber, für das eigene Leben macht man das vielleicht tatsächlich so, stärker so, aber so als Entscheidung, ja, fühlt sich das für mich fremd. Also Destin unterscheidet da jetzt gar nicht so sehr, Regeln ist dabei sehr allgemein, also sowohl sowas wie Gesetze, als auch wie führe ich mein eigenes Leben oder so, das ist alles irgendwie so zusammengemanscht.
Amanda:
[16:28] Okay, ja.
Nils:
[16:29] Aber das ist diese Idee eben von Vorbildern und Paradigmen, dass man eben nicht sagt, ich folge einer Regel, wenn A, dann B, sondern ich folge dem, was eine Person tut. Oder ich bewege mich eben in diesem komplexen System aus widersprüchlichen Regeln, Gedanken, Ideen, Überzeugungen und versuche da irgendwie eine möglichst konkrete, passende Entscheidung für die konkrete Situation zu treffen.
Amanda:
[16:54] Mhm, okay. Okay.
Nils:
[16:57] Das wandert dann bei ihr auch, sie ist eben eine Wissenschaftshistorikerin, auch immer so ein bisschen in die Idee Wissenschaft, also wie sieht Wissenschaft denn dann in dieser Situation aus und was macht Wissenschaft? Oder jetzt in dem Fall auch einfach Handwerk und Kunst. Das ist da auch nochmal ein schönes Beispiel, weil sie eben auch sagt, dass diese Regeln in diesem Modell immer ganz eng mit der konkreten Praxis verbunden sind. Das heißt, die sind nicht universell, in dem Sinne, das ist die eine Regel und die gilt immer, sondern das ist halt die Regel, die gilt in dem Ort. Weil in dem Ort gibt es diese Art von Baustoff und dieser Baustoff ist ein bisschen feuchter als der Baustoff im Nachbarort. Und deswegen gilt im Nachbarort eine andere Regel, weil da ist der Baustoff trockener, mit dem muss man anders umgehen. Und diese Regeln werden eben auch nicht, das fand ich ganz spannend, wenn man eben in frühe Schriften guckt, was auch jetzt Erklärungen angeht in der Kunst und im Handwerk, so eine Art frühe Lehrbücher auch, die haben sich nie an komplette Anfänger gerichtet. Also es war nie das, was wir heute kennen, irgendwie so, du fängst bei nix an und wirst dann so langsam irgendwo hingebracht, sondern die haben immer darauf aufgebaut, dass eine grundlegende Praxis schon da ist. Dass die Leute das Grundlegende schon kennen, auch in diesem Handwerk in Handgriffen geübt sind, bestimmte Begriffe schon kennen und dann quasi darauf aufbauend Orientierung bieten, auf Muster hinweisen und Dinge irgendwie weiter erklären.
Amanda:
[18:25] Okay, das ist interessant. Das erinnert mich an, kennst du das Regelfolgenparadox? Hast du davon schon gehört? Das ist ein philosophisches Paradoxon von Wittgenstein, wo er eigentlich auch diese Regelbefolgung untersucht. Und im Endeffekt geht es darum, um die Frage oder um das Problem, wie können wir wissen, ob wir eine Regel überhaupt richtig befolgen.
Nils:
[18:52] Okay.
Amanda:
[18:53] Weil du kannst das natürlich, es gibt wie ein Regress, oder? Weil eine Regel ist ja auch sprachlich. Also es geht vor allen Dingen in der Sprachphilosophie dann, also bezieht er es natürlich, Wittgenstein, geht es darum, wenn das sprachlich definiert ist, wie können wir dann auch sicherstellen, dass wir das richtig interpretieren, was wir aus der Regel dann folgen. Also es ist wie nur ein Stück weit noch zurück und er sagt dann, oder wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sagt er eben auch, es ist eben nicht, dass Regelfolgen, das kann man gar nicht objektiv sozusagen irgendwas festmachen, also es gibt nicht metaphysisch irgendwie eine Garantie zu sagen, das ist jetzt die korrekt befolgte Regel oder nicht, sondern es folgt immer aus der Praxis, also sozial und aus dem Kontext und so weiter. Also es ist eigentlich das Gleiche und die gleiche Antwort, sage ich mal, für eine noch grundlegendere Frage, wenn es um Regeln geht.
Nils:
[19:44] Ja, das ist eine gute Analogie. Ich habe jetzt, als du das erklärt hast, habe ich dann wieder an Habermas und seine nicht kontraktuellen Grundlagen des Vertrages denken müssen. Also dass ein Vertrag immer auch darauf angewiesen ist, dass Leute sich auch an einen Vertrag halten wollen.
Amanda:
[19:58] Ja, genau.
Nils:
[19:58] Dass der nicht alleine in der Lage ist, sozusagen einen Austausch zu garantieren oder Konformität zu garantieren, sondern dass der immer darauf angewiesen ist, dass es eine grundlegende Übereinstimmung zwischen den Menschen gibt, dass Verträge einzuhalten sind. Genau das geht glaube ich in die ähnliche Richtung und mir ist es hier halt ganz ganz wichtig, in dieser Situation bei dieser Art von Regeln also wie gesagt Regeln auch als Handwerker wie gehe ich vor oder als Künstler wie mache ich bestimmte Dinge, dass da die Person die interpretiert und entscheidet immer gleich mitgedacht ist also diese Regelsysteme funktionieren nicht ohne, Ohne eine kompetente Person, die irgendwie eine gewisse Bildung in diesem Bereich hat, die das Regelsystem auf eine gewisse Weise kennt und sich darin bewegen kann, aber eben gleichzeitig auch immer eine konkrete Person ist, in einer konkreten Situation, mit einem konkreten Gegenüber oder mit einem konkreten Werkstoff vor sich und eben nicht irgendwie so ein abstraktes, abstrakte, berechenbare Ding, die irgendwie für alle immer gleich funktioniert.
Amanda:
[21:03] Ja.
Nils:
[21:04] Okay, und das ist, glaube ich, hier nochmal ein ganz wichtiger Punkt, weil, das schließt auch ganz schön an, ich hatte in einer ganz frühen Episode, ich glaube, es war Episode 8, hatte ich hier ein anderes Buch von Lorraine Destin vorgestellt, Objektivität, da macht sie das Ganze, macht sie was ähnliches auf, da geht es um die Objektivität von wissenschaftlichen Abbildungen. Und sie schreibt halt da eben auch, früher, also 17. Jahrhundert, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, waren das in erster Linie Zeichnungen, die irgendwie als solche Zeichnungen verständlich waren. Also da läuft es ein bisschen andersrum. Während das jetzt im 20. Jahrhundert, im 21. Jahrhundert immer noch stärker, werden wissenschaftliche Abbildungen viel mehr so abstrakte Visualisierungen von irgendwas, wo man ziemlich viel Ausbildung braucht, um die überhaupt zu verstehen. Also wenn ich auf eine Zeichnung irgendwie von einem Tier gucke aus dem 19. Jahrhundert, dann kann ich auch als Laie relativ viel daran erkennen. Wenn ich aber irgendwie auf eine CT-Aufnahme schaue, dann sehe ich da als Laie erstmal relativ wenig.
Nils:
[22:13] Oder auf irgendeine Visualisierung von physikalischen Messgrößen in einem kernphysikalischen Experiment oder irgendwas. Da kann ich nichts dann erkennen, als jemand, der nicht wirklich massiv Ahnung hat in dem Bereich. Und so ist es hier im Grunde andersrum, dass ich mich im Grunde in diesem Regelsystem, nicht bewegen kann, wenn ich nicht auch eine Verankerung, eine Verortung in dieser Praxis habe.
Nils:
[22:38] Und dann auch stark verkörpert, das ist was, da werden wir gleich auch um was Mathematik angeht, nochmal kurz zu kommen. Aber das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es gibt einen Aspekt, wo wir das hier in unserer Welt tatsächlich auch noch haben, diese Art von Regelsystem. Das ist nämlich das angelsächsische Case Law. Also die englische… Was ist das? Also vor allem die englische und amerikanische Art der Rechtsprechung und Rechtsetzung, wo es zwar natürlich auch sowas gibt wie Gesetze, wo aber viel größerer Wert auch gelegt wird auf irgendwelche Interpretationsgrundsätze und aber vor allen Dingen auch auf Präzedenzfälle. Also welcher andere Fall war denn so ähnlich? Und ist jetzt der Fall A die bessere Analogie oder der Fall B die bessere Analogie? Also diese Gedanken und Argumentation, das ist tatsächlich so eine Art, wo sich dieses Denken auch in der heutigen Welt noch viel wiederfindet.
Nils:
[23:37] Was diese Art von Regelsystem auch auszeichnet, das fand ich dann besonders spannend, damit ich mich da bewegen kann, brauche ich diese Regeln, diese Beispiele, diese Geschichten, diese Analogien im Grunde sofort abrufbar. Wenn ich darin denke, dann kann ich nicht erst, also ich kann natürlich auch irgendwie ein bisschen gezielt suchen oder so, aber ich brauche einen gewissen Grundstock in meinem Kopf drin, damit ich eine Situation überhaupt erstmal einordnen kann. Damit ich sagen kann, ja, das geht so ein bisschen in die Richtung von der Parabel oder das passt hier zu dem Gleichnis, das passt hier zu der Geschichte, in dem Buch, in der Bibel und so weiter und so fort. Und da habe ich dann für mich, das hat Destin nicht gemacht in ihrem Buch, aber ich habe mir ein bisschen so den Gedanken gehabt, das könnte auch was mit dem auswendig lernen in der Schule zu tun haben. Warum es vielleicht doch auch manchmal sinnvoll sein kann, bestimmte Dinge auswendig zu lernen, damit man sie genau in solchen Denksystemen abrufen kann.
Amanda:
[24:34] Ja, das ist, kennst du Vera Birkenbiel?
Nils:
[24:39] Ja, dem Namen nach mehr als inhaltlich, aber ja.
Amanda:
[24:42] Und sie hat das mal in so einem Gespräch gesagt, sie nennt das das Wissensnetz. Und ich finde das eine super Analogie, weil man halt echt so, genau, also man hat wie ein Netz von Regeln und dann kann da was hängenbleiben. Und wenn man das eben nicht hat, dann hat man auch keine Referenz, wie man die anwenden soll oder kann oder wie man in einer konkreten Situation da agiert. Also ich habe auch genau, jetzt, als du es erzählt hast, ist mir das auswendig in den Sinn gekommen. Macht Sinn.
Nils:
[25:13] Ich muss auch immer wieder dran denken, Ich habe gerade ganz oft Religion als Beispiel gebracht. Heutzutage gibt es auch mit dem religiösen Extremismus meistens in dem Sinne Probleme, als dass der dazu neigt, die Schriften sehr wörtlich zu verstehen. Das haben wir im Grunde in allen Bereichen, das haben wir im Christentum mit den Evangelikalen, das haben wir mit bestimmten Schlagrichtungen des Islamismus gibt es das, dass da Regeln sehr wörtlich genommen werden, so wie sie da stehen. Und das macht sie auch nicht explizit, aber das scheint mir auch ein Problem zu sein, dass man eben diese Elemente dieser dicken Regel als eigenständige dünne Regel versteht. Also dass man sagt, irgendwas, im Islam ist das sehr deutlich, weil da einfach sehr viel vorbildhaftes Handeln, da ist dieses Vorbild-Element sehr groß, sehr hochgehängt. Wie hat der Prophet damals gehandelt und wir handeln genauso. Dass das eben das damalige Handeln, das Einmalige als eine absolute Regel, als ein Gesetz verstanden wird und nicht als eine ein Handeln einer konkreten Situation, das vielleicht auf irgendwelchen fundamentalen Grundsätzen basiert und auch einen normativen Charakter ruhig haben soll, aber eben nicht als absolute Regel das steht.
Amanda:
[26:30] Gut, das könnte man auch verallgemeinern oder auf alles. Also wenn man anstatt Regeln irgendwie eine Idee nimmt, die ist ja nicht ihrem Entstehungskontext verpflichtet. Also sie entsteht immer wieder neu.
Nils:
[26:41] Ja, sie ist ihrem Entstehungskontext verpflichtet.
Amanda:
[26:44] Nee, eben nicht, oder? Weil sie halt eben in einem neuen, unterschiedlichen Kontext wieder anders interpretiert wird.
Nils:
[26:50] Ach so, okay. Ja, sie ist verpflichtet insofern, dass sie aus einem kommt und dass sie ohne den nicht verstanden werden kann. Aber sie kann natürlich übertragen und anderswo anders angewendet werden.
Amanda:
[26:59] Genau, ja.
Nils:
[27:00] Gut, da haben wir, glaube ich, einfach nur das verpflichtet anders interpretiert.
Amanda:
[27:03] Genau.
Nils:
[27:05] Also das ist so ein bisschen die alte Welt, sage ich jetzt mal. Das ist natürlich nie so ganz monokausal. Oder ganz gerichtet, wie das jetzt in der Vorstellung klingt. Aber das ist so ein bisschen die alte Welt, eben das alte Regelverständnis. Und das ist das Verständnis von Regeln, wo Destin sagt, das ist ein bisschen verloren gegangen. Das wird weniger relevant. Und was viel mehr relevant wird, sind eben die klaren Gesetze. So die klaren Regeln, die sich leicht aufschreiben lassen. Und so weiter. Und da geht sie einen interessanten Weg, der mich erst mal ein bisschen überrascht hat, den ich aber inhaltlich extrem spannend fand. Und sie guckt nochmal, wo kommt denn eigentlich das prototypische Gesetz, die prototypische dünne Regel, die mathematische Formel, wo kommt die eigentlich her? Und da guckt sie eben auch einmal zurück in die Antike, in die frühen Beschreibungen von eben solchen Regeln und mathematischen Algorithmen und beschreibt eben auch da, dass das ganz oft eben nicht, oder meistens nicht eben in irgendwie so eine abstrakte Formelform niedergeschrieben wurde, sondern als Handlungsanweisung.
Nils:
[28:21] Also wirklich wie man jetzt einem kleinen Kind vielleicht erklärt, wie rechnest du 3 plus 2 du nimmst drei Finger und dann machst du nochmal zwei dazu und dann zählst du sie nochmal also wirklich als eine physische Handlungsanweisung für mathematische Vorgehensweisen, also heute kennt man das noch so ein bisschen aus der Geometrie, da geht man ja teilweise noch so vor, dann nimmst du einen Zirkel und dann legst du es lineal an und dann drehst du es so und dann kommt am Ende das bei raus, Also wirklich als Mathematik, als Handlungsanweisung und nicht als Formel. Wir nehmen das immer noch so ein bisschen als Brücke, damit die Leute so ein bisschen lernen, um überhaupt mal reinzukommen. Aber da war es halt tatsächlich die Hauptform, wie das dokumentiert und auch entwickelt wurde. Und dann eben auch ganz eng mit den Werkzeugen verbunden, die dafür genutzt wurden. Eigentlich auch eine ganz spannende Beobachtung. Und dann kommt sie im Grunde zu einem Thema, was da so ein bisschen für sie eine Brücke darstellt. Das ist dieser ganze Gedanke der Automatisierung und der Berechnung, also der Computerisierung im Grunde. Da bin ich mir jetzt gar nicht mehr so, warum sie diesen Sprung macht. Er weiß sich halt super spannend, aber ich weiß nicht mehr, warum sie ihn macht.
Nils:
[29:34] Sie kommt im Grunde von ganz am Anfang mal, Arbeitsteilung als Idee ist jetzt nie hat es immer schon so ein bisschen gegeben aber wurde halt das erste Mal massiv schriftlich festgehalten in der Form von Adam Smith sein klassisches wie wird eine Nadel hergestellt und nicht einer, 20 Leute machen jeweils eine Nadel sondern 20 Leute machen einen Schritt und kriegen dann derselben Zeit irgendwie 100 Nadeln produziert, Und die erste echte Anwendung davon, das ist jetzt das, was mich überrascht hat, war tatsächlich nicht in der Produktion von irgendwas, sondern in der Mathematik.
Nils:
[30:12] Nämlich, als um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert, also Ende 18., Anfang 19. Jahrhundert, große Tabellenwerke erstellt werden sollten für astronomische Berechnungen. Das waren vor allem Logarithmen, die damals erstellt werden mussten. Gaspar de Prony war da ein ganz prominenter Name.
Nils:
[30:33] Und was der im Grunde gemacht hat, dass er gesagt hat, wir nehmen jetzt diese intellektuelle Arbeit, dieses Berechnen dieser Logarithmen, was durchaus aufwendig ist, und wir machen daraus jetzt im Grunde eine physische Arbeit. Wir teilen diese Arbeit auf. Das heißt nicht, ich muss hier diese 10.000 Logarithmen berechnen, sondern ich erarbeite irgendwie ein System, wie mehrere hundert bei weitem mathematisch nicht so gut ausgebildete MitarbeiterInnen oder Menschen, die waren ja wahrscheinlich noch keine MitarbeiterInnen im heutigen Sinne, wie die das mit einfachen Rechenschritten so formularisch machen können. Indem sie einfach immer nur irgendwelche kleinen Zahlen addieren zum Beispiel. Ohne Logarithmen rechnen zu müssen. Und das wurde dann auch tatsächlich so durchgeführt. Das heißt, da sind dann wirklich mit einem relativ hohen organisatorischen und logistischen Aufwand diese Berechnungen, diese Formulare für diese Berechnungen sozusagen verteilt worden. Und dann haben da, oder diese Prozeduren vermittelt worden und dann haben da wirklich ganz viele Menschen gesessen und kleine, einfache Rechnungen gemacht, um damit diese großen Mengen an Logarithmen, die es zu berechnen, galt für die Tabellenwerke zu berechnen.
Nils:
[31:58] Und das ist interessant, was jetzt daraus dann weiter passiert und das ist dann auch wieder ein Name, den kennt man vielleicht mehr als Gaspard de Prony, das ist eine Arbeit, an die hat dann Charles Babbage angeschlossen, den man ja gemeinhin als Erfinder des Computers oder der automatisierten Rechenmaschine sieht.
Nils:
[32:16] Der hat nämlich genau das, was Proni da gemacht hat, gesehen und hat versucht, es zu automatisieren. Also nicht nur auf viele Menschen zu verteilen, sondern tatsächlich zu automatisieren. Und dann das eben zusammen mit Ada Loveless dahin weiterentwickelt, dass das eben nicht nur für diesen Algorithmus geht, sondern für grundsätzlich alle oder für mehr. Für viele Algorithmen. Das heißt, was wir da jetzt für einen Nebenstrang haben, ist hier im Grunde das Argument, dass die Arbeitsteilung der Automatisierung vorausgeht. Das heißt, dass nicht irgendwie eine Technik erfunden wird und damit wird dann die Arbeit automatisiert, sondern dass erstmal die Arbeit auf ganz viele Menschen verteilt wird, die nicht sonderlich viel können müssen. Und wenn das dann klappt, dann können diese Menschen, die nicht sonderlich viel können müssen, durch die Maschine ersetzt werden.
Amanda:
[33:07] Okay, das ist, das klingt für mich ein bisschen nach, ich habe einen Artikel gelesen, dort wird das Church-Turing-Deutsch-Principel genannt und also die These ist da, dass eigentlich jeder physische Prozess oder physikalische Prozess simuliert werden kann von einer universellen Maschine eigentlich. Und das, also ist das ungefähr das, was gemeint ist?
Nils:
[33:31] Ja, es geht ja mehr als ums Simulieren. Okay. Es geht ja wirklich ums Tun, hier an der Stelle. Es geht ja wirklich darum, dass diese Berechnung, also bei Berechnung ist es noch offensichtlich, aber es geht dann ja später auch um die tatsächliche Produktion. Da ist es dann mit dem Simulieren halt nicht mehr getan. Aber es geht, glaube ich, tatsächlich in eine ähnliche Richtung, ja.
Amanda:
[33:49] Okay.
Nils:
[33:50] Was ich jetzt nur spannend finde, weil dieser Gedanke, dieser Punkt ist genau der Punkt, an dem jetzt das Buch, was ich gerade gelesen habe, das ist von Matteo Pasquinelli, The Eye of the Master, an dem das ansetzt. Das vertieft das im Grunde nochmal massiv. Und er zitiert auch tatsächlich explizit Destin, das fand ich ganz lustig, weil ich die Bücher direkt hintereinander gelesen habe, ohne dass mir das vorher bewusst gewesen wäre.
Amanda:
[34:10] Das liebe ich, wenn das passiert.
Nils:
[34:15] Das ist aber jetzt eben, diese Entwicklung ist halt ein spannendes Phänomen, weil was das eben dann im Endeffekt macht, gerade dann auch wenn die Automatisierung da war, dass das aus dieser intellektuellen, also der psychischen Arbeit, im Grunde physische Und da gibt es ein schönes Beispiel. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden in den USA die sogenannten Holleritmaschinen eingesetzt im Bereich des Zensus.
Nils:
[34:42] Und da war es irgendwie notwendig, mehrere zehntausend Summen zu erstellen aus irgendwelchen Zahlen, die aus sieben unterschiedlichen Tabellen kommen. So, das war im Grunde die Aufgabe, die da bestand. Und statt dass das eben einige mathematisch gebildete und fähige Menschen tun, ist es eben an diese Hollerit-Maschinen übergeben worden. Und das bedeutete, dass zwölf Millionen Zahlen auf 300.000 Karten eingeprägt, also Punchcards gelocht werden mussten. Und das ist natürlich ein unglaublicher physischer Akt. Und es ist auch eine Art von physischer Arbeit, die so aus der Arbeitswissenschaft weiß man, das extrem belastend ist, weil sie ist auf der einen Seite unglaublich monoton, aber verlangt die absolut volle Aufmerksamkeit. Ja, klar. Weil man sich eben nicht vertun darf. Man macht immer dasselbe, man nimmt immer einen Stanzer und ein Stanzloch in eine Karte, ein Stanzlöcher in Karten. Man darf sich dabei aber nicht vertun. So, und das ist so für die mentale Belastung und auch für physische Belastung eine der schlimmsten Kombinationen, die man sich so vorstellen kann. Abseits jetzt von manifester Ausbeutung und so, davon reden wir jetzt nicht. Und das war wohl auch tatsächlich so, dass diese Belastung der Menschen, die das gemacht haben damals, einer der Gründe war, warum grundsätzlich die Arbeitszeiten verkürzt wurden.
Nils:
[36:11] Weil die eben nicht über die ganze Zeit das durchgehalten haben. Was jetzt hier passiert ist, ist aber auch gleichzeitig, das hatte ich gerade schon angedeutet, dass diese intellektuelle Arbeit des Berechnens massiv dequalifiziert wurde. Weil die Berechnung jetzt eben von automatisierten Maschinen oder eben von Menschen, die nur kleine Summen bilden müssen, irgendwie gemacht werden konnte. Also das fand ich einen sehr spannenden Schritt und ich glaube, der Ersten nimmt diesen Schritt auf, weil es halt hier genau darum geht, diesen Schritt im Grunde von der Praxis, von dem Verkörperlichten, von dem sehr eng an den Menschen gebundenen weg zu so einer abstrakten Prozedurierung, wo der Mensch im Grunde nur noch ausführendes Organ im Grunde ist, hinzugehen. Und das dann wiederum so ein bisschen zu diesen dünnen Regeln führt oder zu den Gesetzen, die sie da irgendwie, die sie da aufgreift.
Nils:
[37:10] Genau, sie geht dann auch noch so ein bisschen auf Gesetze, jetzt tatsächlich im Sinne von Gesetzen, wie wir sie rechtlich kennen. Also das war jetzt ja eher so ein Zwischending. Jetzt geht es auch noch um rechtliche Gesetze. Da hat sie ein ganz schönes Kapitel, das ich jetzt aber auch nicht im Detail aufdrösel, wo sie mal guckt, also erst mal unterscheidet sie zwischen Gesetzen, Regeln und Regulierung.
Nils:
[37:34] Gesetze sind sehr allgemein, sehr knapp, sehr kurz. Kurze Regeln sind dann schon so ein bisschen konkreter irgendwie runtergebrochen und Regulierung ist dann so das, was unten im Amt sozusagen dann tatsächlich vorgibt, wenn hier eins steht, dann macht das, wenn hier zwei steht, das macht das, dann macht das. Was sehr, sehr kleinteilig werden kann und sie überlegt dann an zwei Beispielen, wann sich sowas eigentlich durchsetzen kann, wann sich so eine Regulierung, die von oben geplant ist eigentlich durchsetzen kann und sie hat da drei spannende Beispiele, sie hat einmal das Beispiel der Regulierung von Konsum, Also es gibt zum Beispiel, es gibt wohl eine lange Geschichte, mir war das auch nicht so bewusst, von Regeln, was man eigentlich anziehen darf, was man besitzen darf, wer wie viele Dinge von welcher Qualität kaufen darf, welche Hüte, welche Mäntel, welcher Schmuck an Mänteln sein darf und so weiter. Es gibt es wohl tatsächlich im letzten Jahrhunderten sehr lange immer wieder versucht worden und es hat nie wirklich funktioniert. Es gab dann teilweise sehr, sehr massive Regeln, es darf nur drei Knöpfe aus diesem Holz an einem Mantel geben und nicht vier, aber diese Regel wurde dann halt nicht durchgesetzt, also die Regel war sehr detailliert, aber wurde halt quasi nicht durchgesetzt.
Nils:
[38:51] Das eine Beispiel, das andere Beispiel was sie bringt, ist ein sehr anderes, ist die Rechtschreibreform, das hatten wir ja in Deutschland vor, wann hatten wir das, 25 Jahren irgendwas in der Größenordnung, hatten wir darüber ja große Diskussionen wie verändert sich jetzt irgendwie unsere Rechtschreibung, es hat sich jetzt irgendwie halbwegs etabliert und es gibt nicht mehr ganz so viele, die da noch irgendwie hinterher quaken, und dann haben wir eben noch das Thema wie man Städte regulieren kann in dem Sinne, dass eben Müll rausgestellt wird, dass Autos auf einer Straßenseite fahren, und so weiter und so fort. Also das ist so ein bisschen die Beispiele, die sie ein bisschen historisch nachzeichnet. Das ist ganz nett zu lesen. Wichtig ist halt, dass diese Gesetze oder für ihre übergreifende Argumentation ist halt besonders wichtig, dass so eine funktionierende Regulierung, also auch schon auf der kleinteiligen Ebene, dazu führt, dass die Welt deutlich vorhersehbarer und kontrollierbarer wird. Weil man eben viel besser vorauslegen kann, was andere Menschen tun und was auch irgendwie passiert. Klassisches Beispiel, die Regulierung der Krümmung von Gurken. Das ist ja so ein EU-Beispiel, was immer gerne genannt wird. Im Kern gibt es…
Amanda:
[40:05] Sind es nicht die Bananen, sind es Gurken?
Nils:
[40:07] Ich glaube, es war tatsächlich bei Gurken, dass die nicht zu sehr gekrümmt sein durften. Was einfach damit zu tun hatte, damit eine berechenbare Anzahl von Gurken in die Standardcontainer passt.
Amanda:
[40:18] Klar, macht Sinn, ja.
Nils:
[40:19] So, klar, auf einmal ist es vorhersehbar und kontrollierbar. Auf einmal weiß ich, okay, ich habe jetzt den Standardcontainer, da sind jeweils 50 Gurken drin, ich habe ja 500 Gurken. So, und das weiß dann auch jeder, der diese zwei, oder der diese eine Information hat, kann das sofort sich ableiten. Da brauche ich keine große Praxis oder viel Erfahrung oder irgendwas. Ich muss nicht eins in die Hand nehmen und das mit der Hand abbiegen oder ein anderes daneben und sagen, hier sind vielleicht zehn drin, hier sind wahrscheinlich nur acht drin. Sondern es ist einfach standardisiert, Punkt. Das macht die Welt vorhersehbar, das macht die Welt kontrollierbar. Natürlich nur, wenn sich diese Norm und diese Regulierung auch tatsächlich etabliert. So, das war der Gedanke von Gesetzen. Sie führt das dann weiter zu einem auch wieder spannenden Punkt, nämlich zum Thema Naturgesetze. Und da haben wir auch wieder ein Übersetzungsproblem, weil Naturgesetze hat im Deutschen zwei Bedeutungen, die sich im Englischen unterscheiden lassen, nämlich einmal Natural Laws und Laws of Nature.
Nils:
[41:29] Also Natural Laws sind sowas wie natürliche Gesetze, also das kennt man aus der deutschen Philosophie, kennt man das durchaus auch, diese Idee. Also das sind so Dinge, die halt gelten. Das ist das Natürliche, das ist das Normale, das ist das, was den Mensch zu Menschen macht. So, alles andere ist wieder die Natur so, diese Art von Argumentation da in dieser Logik ist die Natur der ultimative Ausdruck von Vernunft, weil ja so sind wir Menschen halt so, das ist ein Naturgesetz dass wir Menschen so sind.
Nils:
[42:09] Und dann haben wir noch einen anderen Blick auf Natur, das ist jetzt nicht der andere Blick auf Gesetz, sondern auf Natur, wo Natur der ultimative Ausdruck von Instinkt ist. So, das ist irrational, das ist unvernünftig, das sind doch nur Emotionen, das sind Triebe, die müssen eingehegt werden und so weiter und so fort. Da ist Natur irgendwie alles andere als vernünftig. So, und das Problem ist gewesen, jetzt hat man diese beiden Blicke auf Natur, so Natur ist irgendwie das, wie wir halt sind, wir sind halt auch irgendwie Teil der Natur und so. Und gleichzeitig ist Natur irgendwie rational. Und das ist so ein bisschen Weg gewesen, das zu überbrücken, das war eben auch einer der Wege, eine Funktion, die Religion übernommen hat. Eben genau das so ein bisschen zu kriegen, weil beides unterliegt Gott. Es gibt also irgendwas, was drüber geordnet ist und dann sind diese Widersprüche zwischen diesen beiden Perspektiven sind zwar irgendwie da, aber sie sind nicht so kritisch, weil im Endeffekt entscheidet eh Gott. So was auch immer das heißt. Das ist jetzt auch ein schöner Punkt, der bei Blom in seinem die Unterwerfungsbuch auch gut auftaucht, so diese Widersprüchlichkeit. Und ein weiterer Weg dahin zu gehen, ist dann eben zu sagen, wir haben jetzt nicht mehr diese natürlichen Gesetze, sondern wir haben die Naturgesetze, also Laws of Nature im Englischen. Das heißt, das sind Gesetze, das sind Regeln, denen die Natur unterliegt.
Nils:
[43:33] Die auch, die aus der Natur kommen sozusagen, aber denen sie auch selber unterliegt, wo sie jetzt nicht sich irgendwie von abweichen kann, die irgendwie da drüber geordnet sind, So als grundlegendes Ordnungsprinzip. So, habe ich dich soweit mitgenommen?
Amanda:
[43:52] Ja, ich bin noch da.
Nils:
[43:54] Bist du leise geworden?
Amanda:
[43:56] Ja, nee, also ich muss das noch ein bisschen zusammenbringen, was die Unterscheidung, die sie da macht. Aber ja, erzähl mal weiter.
Nils:
[44:05] Also diese Unterscheidung zwischen Naturgesetz und Naturgesetz, das ist im Grunde der Gedanke, einmal dieses, so ist es halt natürlich, also so ein bisschen dieses Moralische. Oder die Menschen sind doch Fleischfresser. Oder der Mensch ist von Natur aus, setze das Adjektiv deiner Wahl ein. Das sind diese Naturgesetze, die irgendwie was rechtfertigen. So was Moralisches. Und dann haben wir eben das, was wir Naturgesetze nennen. Wie hier E gleich mal C-Quadrat im Klischee. Was ja doch eine andere Art von Gesetz irgendwie ist. Das ist etwas Gesetztes. Was aber eben nicht irgendwie wir Menschen gesetzt haben. Sondern wo wir glauben, wir hätten es entdeckt und nicht erfunden. Oder warum man es jetzt…
Amanda:
[44:44] Und sie macht das einfach deskriptiv, also um dann ein Argument daraus zu entwickeln. Beschreibt sie diese Unterscheidung?
Nils:
[44:53] Weil sie eben zur Universalität von Regeln will. Also das ist eine gute Frage, danke. Sie macht das, weil sie eben von dieser eingebetteten Praxis hin will zur Idee von universellen Regeln. Von Regeln, die irgendwie immer gelten. Die irgendwie so eine universelle Geltung haben. Weil da ist das Naturgesetz eben der Prototyp für. Weil wir da ja eben auch schon gelernt haben, dass selbst die so ihre Grenzen haben. Wenn man so an Newton’sche Mechanik oder sowas denkt, die dann im ganz Kleinen und ganz Großen auch wieder in ihre Grenzen stößt.
Nils:
[45:23] Genau, das ist ein bisschen die Idee und dann sind wir auch im Grunde schon am letzten Punkt. Das ist auch, glaube ich, was, was sie, ich weiß gar nicht, ob sie das so explizit macht in dem Buch. Also das war ein interessantes Buch, weil sie macht sehr viel historische Analyse, sehr viel auch historische Details und legt irgendwie so einen analytischen Werkzeugkasten, macht sie auf und stellt ihn vor, aber wendet ihn dann eigentlich nicht mehr an. Das fand ich spannend. Das war in dem Buch von Pasquinelli, das ich nächstes Mal vorstellen werde. Relativ ähnlich, weil dieser Schluss, den ich jetzt ziehe, ich weiß gar nicht, ob sie den so explizit zieht, aber ihre Grundthese ist schon, dass die Regeln, die wir haben, eben immer dünner werden, in ihrem Sinne, dass sie immer deterministischer werden und dass sie das Ermessen im Grunde immer mehr rausnehmen. Also, dass es eben nicht mehr darum geht, dass eine konkrete Person mit Wissen über die konkrete Situation von dem Hintergrund von komplexen Orientierungen und Geschichten und Analogien eine Entscheidung trifft, sondern dass es halt die eine Regel gibt, die angewendet werden muss, egal, was die Umstände eigentlich sagen. Das heißt, und zwar nicht nur im Sinne, dass Personen das nicht mehr dürfen, sondern dass es diese Beispiele, diese Erläuterungen und so weiter auch teilweise gar nicht mehr gibt.
Nils:
[46:40] Ich weiß nicht, ich hatte in meinem Studium, es ist jetzt leider auch schon erschreckend lange her, aber mal irgendwie so auch verschiedene Arten, wie Gesetze ausgelegt werden könnten. Einmal gibt es irgendwie so die Interpretation nach dem Wortlaut, also dem, was da steht. Dann gibt es aber auch die Interpretation nach dem, wie der Gesetzgeber es gemeint haben könnte.
Nils:
[46:59] Und es gab noch ein drittes, was mir jetzt gerade entfallen ist. Also das ist so ein bisschen der Versuch, das dann wieder reinzubringen, aber eigentlich ist da diese Regel, dieses Gesetz, das sagt, ja, wenn du mehr verdienst als x, dann musst du. Egal, ob das jetzt in der Situation angemessen ist oder nicht. Oder ob das auch dem Ziel, das das Gesetz mal hatte, noch angemessen ist oder nicht. Es gibt halt diese Regel und die steht da. Und es fehlt im Grunde diese Reichhaltigkeit, diese Fülle an an Erläuterungen, an Beispielen und so weiter, um das anzuwenden. Und was jetzt auch noch dazu kommt, das sagt Destin, aber glaube ich nicht selber, das ist jetzt eher meine Interpretation, dass wir immer mehr auch dahin kommen, dass auch die grundlegende praktische Kompetenz derjenigen, die es anwenden, fehlt. Also dass auch bei immer mehr Quereinstiegen in verschiedene Bereiche oder so, auch diese grundlegende praktische Erfahrung, die einem dann vielleicht doch mal noch ermöglicht, so ein bisschen zu drehen oder eine von der Regel abweichende Entscheidung zu treffen, dass die eben auch immer mehr fehlt. Und deswegen wir da auch Schwierigkeiten haben, weil es eben nicht mehr wirklich eine Brücke gibt zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten. Es gibt das Abstrakte und das beherrscht im Grunde alles.
Amanda:
[48:11] Und sagt sie, weshalb sie das Gefühl hat, dass das zu dieser Entwicklung gekommen ist? Weil für mich klingt das ein bisschen jetzt auch, insbesondere mit dem Hinblick auf KI, eigentlich, dass das Gegenteil passiert. Also, dass dieser Determinismus aufgeweicht wird und eigentlich einer Blackbox Platz macht, wo wir eben gar nicht mehr genau wissen, wie es am Schluss zu diesem Output kommt. Und klar, wenn man einfach den Output nimmt, dann hat man diese dünne Regel. Man hat irgendeine Aussage oder eben was befolgt wird, ohne den Kontext oder ohne zu wissen, was steckt dahinter. Aber für mich ist das ein bisschen ein Widerspruch. Oder nicht ein Widerspruch, aber ich verstehe nicht ganz, oder ich kann nicht nachvollziehen, wie sie das Gefühl hat, warum das dazu gekommen ist.
Nils:
[48:54] Einerseits, ich meine, sie ist Ideenhistorikerin, insofern geht sie natürlich primär davon aus, dass Ideen auf Ideen aufsetzen, sozusagen. Das wird sehr viel mit dieser Idee der Naturwissenschaft, Naturwissenschaftlichkeit, der universellen Gesetze und der Regeln, die immer gelten und so weiter zu tun haben. Pasquinelli macht was ähnliches, bei dem ist es halt Kapitalismus. Ähm, sie redet irgendwo davon auch, dass diese Berechenbarkeit, die eben Regulierung bietet, dass die süchtig macht. Diese Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit, die macht süchtig sozusagen, weil das auf einmal, oh, jetzt kann ich das vorhersehen, jetzt kann ich das berechnen. Das ist natürlich auch ganz praktisch. Das Thema KI, das ist glaube ich hier noch nicht tief drin, das Buch ist 23 erschienen, also es wird irgendwie 2021, 2021 oder was geschrieben sein, vielleicht auch noch 2022, das wird sie noch nicht tief mitgemacht haben. Ich bin aber tatsächlich da auch eher an dem Punkt, so dieses, der Output ist am Ende eine dünne Regel, die ich im Grunde gar nicht mehr verstehe. Also das ist für mich jetzt eher so der Anknüpfungspunkt, wo auch dieser Punkt, es fehlt die praktische Kompetenz, dann irgendwann einzuschätzen. Was ist denn jetzt dieser Output von diesem KI-System? Taugt der jetzt eigentlich was oder nicht? Dafür muss ich ja erst mal gelernt haben, zu entscheiden, was taugt denn jetzt was oder nicht in dem entsprechenden Kontext, in dem ich bin. Also ist der Werbetext, den er produziert hat, jetzt gut oder schlecht? Dafür muss ich selber wissen, wie gute Werbetexte aussehen.
Nils:
[50:20] Also da sehe ich jetzt die Schnittschmelze. Bei der Erstellung, da hast du recht, das ist so ein bisschen blackboxig. Aber das ist ja das Entstehen der anderen dünnen Regeln im Grunde auch. Also ich persönlich weiß jetzt nicht, wie irgendwie die Regel entstanden ist, du musst beim Auto die Kupplung drücken, damit du Gas geben kannst. Ich habe natürlich eine grobe Ahnung von der Mechanik dahinter. aber, Irgendwie ist nehme ich halt so hin, das mache ich halt so.
Amanda:
[50:47] Ja, aber findest du nicht, es gibt ja auch diese Regeln, also keine Ahnung, nimm mal den irgendwie kategorischen Imperativ, wo ja, ich sage mal, das Qualitätsmerkmal davon ist, dass so ein komplexes Gebilde dahinter steckt und das runtergebrochen wurde auf eine ganz, ganz dünne Regel eigentlich. Genau. Es gibt wie beides, also das Dünn ohne Hintergrund und Dünn mit viel Hinterbau.
Nils:
[51:12] Ja, aber die Frage ist, was ist das für ein Hinterbau? Ist das ein Hinterbau, der sozusagen rechtfertigt? Oder ist das ein Hinterbau, der mir beim Agieren mit dieser Regel hilft?
Amanda:
[51:24] Okay, ja.
Nils:
[51:24] Und also ich würde jetzt aber auch sagen, sowas ist, das gehört noch eher in die Kategorie der dicken Regeln.
Amanda:
[51:30] Ja, okay.
Nils:
[51:30] Weil es eben eingebettet ist in ganz langen Ideen, historischen Diskurs und so weiter. Das ist natürlich bei sowas mathematischem einfacher, wo du sagen kannst, okay, wenn ich diese Berechnung von Druck anwende, dann erfahre ich, ob die Wand hält oder nicht.
Amanda:
[51:44] Punkt.
Nils:
[51:46] Und das ist aber dann eben auch relativ berechenbar und absehbar. Und ich glaube, das ist so ein bisschen der Punkt, wo sie dann auch hin will, dass wir diese dünnen Regeln im Grunde nur haben, dass die nur funktionieren in einer sehr stabilen Welt. In einer Welt, die konstant ist, die berechenbar ist, jetzt sind wir genau bei diesen beiden Welten ganz am Anfang, und dann funktionieren die dünnen Regeln. Also wenn ich die Regulierung habe, dass 50 Gurken in jeder Standardkiste sind, dann reicht es, wenn ich die Standardkisten zähle. Und dann reicht es vielleicht sogar, wenn ich irgendwie das Gewicht der Standardkisten beim Beladen, bevor die Gurken drin waren, hernehme und daraus kann ich berechnen, wie viele Gurken habe ich. Weil ich weiß, die Kisten haben beim Beladen, waren das drei Kilo Kisten, ich weiß, jede Kiste wiegt 300 Gramm, okay, das sind also zehn Kisten, jeder Kiste sind 50 Gurken, ich habe also 500 Gurken. So, das spart mir im Endeffekt das Zählen, wie viele Gurken habe ich hier eigentlich. Aber damit das funktioniert, muss das eben so standardisiert sein. Die Kisten müssen immer das gleiche wiegen, die müssen immer mit 50 Gurken befüllt werden.
Nils:
[52:50] Und wir haben Leben in einer Welt, und da bin ich jetzt wieder auch relativ stark bei ihr, die sehr stark auf diese dünnen Regeln angewiesen ist, damit sie noch funktionieren kann. Die aber gleichzeitig einen gewaltigen Aufwand betreibt, um die Welt so stabil und berechenbar zu halten, damit diese dünnen Regeln noch funktionieren. Also dann muss auf einmal eine Behörde eingerichtet werden, die kontrolliert, ob auch wirklich immer 50 Gurken in jeder Standardkiste sind. Das selber ist wieder eine leichte Arbeit, die ist jetzt nicht intellektuell aufwendig oder so, aber sie muss halt gemacht werden. Das ist interessant. Bisschen dieser Spannungsverhältnis, also wir haben im Grunde die Komplexität, das macht sie jetzt wieder, glaube ich, gar nicht so explizit, wir haben im Grunde die Komplexität, wir haben jetzt zwei so dünnen, einfachen Regeln, nach denen wir eine ganze Menge machen können. Dafür haben wir ein ziemliches Konstrukt gebaut, damit die Welt so stabil ist, dass die noch halten. Und das ist halt auch so, könnte man als Argument herziehen, warum wir uns mit so einem gesellschaftlichen, globalen Wandel so schwer tun, weil wir dann eben irgendwie immer mehr wieder lernen müssen, mit diesen dicken Regeln zu arbeiten, mit dieser nicht so berechenbaren, nicht so standardisierten Welt irgendwie zurecht zu kommen und das alles deutlich aufwendiger und, komplexer wieder wird, auch für den Einzelnen. So. Das war eigentlich der Ritt durch das Buch.
Amanda:
[54:19] Cool, vielen Dank. Soll ich mich gleich anschließen mit meinen weiterführenden Tipps? Ich fand es sehr spannend. Ich habe den Podcast gehört von Lorraine Dustin in der Sternstunde Philosophie. Das war auch irgendwie Umsbuch. Aber ich finde, sie hat da gar nicht wirklich Bezug genommen auf die Themen, wie du sie jetzt vorgestellt hast. Deswegen finde ich das ganz gut, aber natürlich trotzdem interessant, das Interview mit ihr zu hören. Also das wäre meine erste Empfehlung.
Amanda:
[54:56] Bezüglich Folgen von unserem Podcast ist mir Folge 59 in den Sinn gekommen. Da habe ich ein Buch von Roberto Simanowski vorgestellt, Todesalgorithmus. Da geht es eben auch um Algorithmen und was halt die Befolgung oder Nichtbefolgung auch für ethische Konsequenzen hat. Hat natürlich im weitesten Sinne auch mit Regeln zu tun. Dann ein Buch, was ich von Dustin gelesen habe, ist Against Nature. Das hat natürlich auch einige Schnittstellen mit dem, was du jetzt vorgestellt hast. Wie kann Natur interpretiert werden? Was für Konnotationen, Denotationen gibt es? Ich fand das sehr interessant. Ich finde das Thema generell sehr spannend. Kann ich auch sehr empfehlen. Und dann noch zwei Dinge, die mir in den Sinn gekommen sind. Das ist einerseits ein Artikel, Von, ich glaube, das war eben Nömer-Mag, kann das sein? Oder New York Times? Nein, ich glaube, spricht man Nömer oder Noema?
Nils:
[55:56] Noema, ich würde es mal Noema nennen, aber ich weiß es auch nicht, ehrlich gesagt.
Amanda:
[55:59] Auf jeden Fall ein Artikel, der heißt The Tyranny of Time oder so. Und da ging es eben auch darum, wie Zeit und diese gemessene Zeit eigentlich dazu führt, wie unsere Welt strukturiert wird. Und wie dann auch Personen benachteiligt werden, Dadurch, dass diese Zeit erfunden worden ist.
Amanda:
[56:20] Und interessant fand ich auch, dass der Autor da gesagt hat, dass die Erfindung eigentlich auch mit den Mönchen oder das ist aufgekommen in den Klostern, weil diese Ritualisierung des Alltags im Kloster auch dann die Zeit ja strukturiert hat in einem Sinne und dass darauf dann eben auch der Kapitalismus basiert und so weiter. Also es hat wie auch viele Anknüpfungspunkte mit dem, was du jetzt erzählt hast. Und das ist in einem Artikel beschrieben. Und das letzte Buch, das ist Materialfluss, heißt das. Da geht es um die Geschichte von Logistik und aber aus der Perspektive des Stillstands. Also der Untertitel ist eine Geschichte der Logistik an den Orten ihres Stillstandes. Und das ist von Monika Doman geschrieben und ich fand das auch, es ist so ein Buch, was ich einfach gesehen habe und dann reingeguckt, komplett aus der Luft, also ich habe da nicht irgendwie eine Ahnung von, aber es ist mir jetzt in den Sinn gekommen, als du das mit den Gurken so erwähnt hast. Also das ist natürlich auch sehr interessant, wie das überhaupt zustande gekommen ist. Also wie dann Logistik möglich gemacht worden ist durch Regeln eben und durch Standardisierung und so weiter. Also das ist auch ganz, ganz nett.
Nils:
[57:33] Und da gab es auch noch irgendein Buch, glaube ich, zur Geschichte des Shipping-Containers, des Standard-Containers.
Amanda:
[57:38] Ja, genau.
Nils:
[57:38] Das auch in diese Richtung geht.
Amanda:
[57:40] Ja, da habe ich auch einen guten Artikel zu. Ich glaube, den habe ich schon mal irgendwo erwähnt. Kann ich sonst auch noch verlinken.
Nils:
[57:45] Gerne. Cool, danke dir. Ha, du hast sogar eine Episode noch dran, die ich mir nicht vorher ausgesucht hatte, sehr gut. Ich habe tatsächlich primär alte Episoden von uns jetzt erstmal mitgebracht. Erstmal, weil ich einfach die Bezug schon mehrfach gemacht habe, auf jeden Fall die Unterwerfung von Philipp Blom, meine letzte Episode, das war Nummer 81. Einfach weil da diese Idee erstmal dieser Widersprüchlichkeiten die irgendwie durch Religion vor allen Dingen überdeckt werden aber vor allen Dingen auch, weil ja dieses Kontrollieren der Welt dieses Berechenbarmachen der Welt das setzt ja im Grunde deren Unterwerfung voraus und das macht Philipp Blom eigentlich sehr schön in seinem Buch deutlich und weil es wirklich irgendwie als Trilogie wunderbar funktioniert und gar nicht von mir so geplant war dann eben auch noch The Eye of the Master von Matteo Pasquinelli, das ist glaube ich gerade auch auf Deutsch erschienen. Das Auge des Herren heißt es, glaube ich, tatsächlich da. Das wird vermutlich unsere Episode 91 werden, aber die gibt es halt noch nicht. An Episoden, die es schon gibt, haben wir natürlich dann auch auf jeden Fall die Episode zur Objektivität von Lorraine Destin und Peter Gellison. Auch ein anderes Buch von der Autorin. Ich finde sowieso, also Lorraine Destin ist gerade so eine unserer klarsten Denkerinnen zum Verhältnis Wissenschaft, Gesellschaft.
Nils:
[59:03] Was passiert da eigentlich? was ist da eigentlich passiert in den letzten Jahrzehnten. Auf jeden Fall immer empfehlenswert zu lesen und zu hören, wenn sie euch über den Weg läuft. Dann habe ich noch von Ian Stewart und Jack Cohen unsere Episode 49, Collapse of Chaos. Einfach, weil es eben da auch dieses Konstanthalten sozusagen der Welt und der Versuch, Chaos irgendwie zu kontrollieren und zu steuern im Grunde geht.
Nils:
[59:32] Dann habe ich noch unsere Episode 20 von Thomas Bauer, die Vereindeutigung der Welt. Da kommt genau dieser Gedanke her, den ich vorhin formuliert habe mit Religionen, die sozusagen diese Elemente der dicken Regelsysteme jetzt heutzutage oft als dünne Regeln missverstehen und dadurch irgendwie in so einen etwas schrägen Blick auf die Welt im Grunde verfallen. Und dann noch ein Buch, was wir noch nicht vorgestellt haben, was ich jetzt aber eigentlich auch mal endlich lesen sollte. Das ist von Stefan Kühl, ein Organisationssoziologe, gebrauchbare Illegalität. Das habe ich, glaube ich, auch schon ein oder zwei Mal hier empfohlen. Da geht es im Grunde darum, dass Organisationen, also meistens Unternehmen, aber im Grunde auch Behörden oder irgendwelche NGOs oder so, dass die immer auch, dass die sich nie darauf setzen sollten, dass immer alle Leute alle Regeln einhalten. Das Ganze im Grunde nur funktionieren kann, wenn auch mal Leute sich gezielt und an den richtigen Stellen nicht an Regeln halten. Deswegen brauchbare Illegalität, das ist, glaube ich, sehr, sehr anschlussfähig eben an diesen Gedanken der dünnen Regeln, die nicht mehr in der Lage sind, die Welt irgendwie so zu erfassen, wie die Komplexität es eigentlich erfordern würde.
Nils:
[1:00:49] Genau, ihr könnt auch ein paar meiner Gedanken zu dem Buch, könnt ihr auch nachlesen auf meiner anderen Webseite, auf weltenkreuzer.de, da habe ich auch ein paar sechs oder sieben Lesenotizen zu dem Buch schon platziert, die stelle ich euch auch mal in den Chat, den Link zumindest zur Übersicht, könnt ihr da auch einmal reingucken. Genau, jetzt überlege ich gerade noch, ob mir noch irgendwas spontan einfällt, aber gerade erst mal nicht.
Amanda:
[1:01:18] Sehr schön. Sollte ich den Abschluss machen,
Nils:
[1:01:20] Nils? Sehr gerne.
Amanda:
[1:01:26] Ich bedanke mich fürs Zuhören. Man findet uns im Internet unter zwischenzweidecken.de. Das ist unsere Hauptwebseite. Wir sind auch auf den sozialen Medien zu finden unter addeckeln, also das letzte Wort mit dem Ad auf x auf Twitter. Und wir sind auch auf mastodon unter social, Moment.
Nils:
[1:01:52] Atzzzd.podcasts.social.
Amanda:
[1:01:54] Genau, vielen Dank. falls ihr uns hört auf allen wir sind auf allen gängigen Podcasts Plattformen auch zu hören und freuen uns auch natürlich über Bewertungen oder Sternchen, je nachdem wo ihr uns runterlädt oder hört und ja, bedanken wir uns fürs Zuhören und ich bedanke mich fürs Vorstellen, Nils Wir hören uns in den nächsten Folgen Macht
Nils:
[1:02:17] Es gut, tschüss.
Music:
[1:02:18] Music
Der Beitrag 086 – „Regeln“ von Lorraine Daston erschien zuerst auf Zwischen zwei Deckeln.
Розділи
1. Einstieg (00:00:00)
2. tl;dl (00:04:50)
3. Buchvorstellung (00:05:23)
4. Mehr Literatur (00:54:19)
5. Ausstieg (01:01:26)
87 епізодів
Manage episode 461348042 series 2506947
Regeln durchziehen nicht unsere modernen Gesellschaften, sondern sind schon immer Grundlage menschlichen Zusammenlebens. Doch ihre Bedeutung und Interpretation hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Diesem Wandel geht Lorraine Daston in ihrem Buch Regeln – eine kurze Geschichte nach: Sie beschreibt unterschiedliche Arten von Regeln – dicke und dünne oder lokale und universelle – und spürt besonders einem Verständnis von Regeln nach, das wir heute verloren zu haben scheinen: den Regeln als Modelle, die wir nachahmen und an denen wir uns orientieren.
Shownotes
- Lesenotizen Nils zu „Regeln“ von Lorraine Daston
- ZZD008: „Objektivität“ von Lorraine Daston und Peter Gallison
- ZZD020: „Vereindeutigung der Welt“ von Thomas Bauer
- ZZD049: „Collapse of Chaos“ von Ian Stewart und Jack Cohen
- ZZD059: “Todesalgorithmus” von Roberto Simanowski
- ZZD081: „Die Unterwerfung“ von Phillip Blom (Lesenotizen Nils)
- Buch: „The Eye of the Master“ von Matteo Pasquinelli (Lesenotizen Nils)
- Buch: „Brauchbare Illegalität“ von Stefan Kühl
- Podcast: “Lorraine Daston – Die Regeln unseres Lebens” Sternstunde Philosophie
- Buch: “Against Nature” von Lorraine Daston
- Artikel: “Rule-Following and Intentionality” (aus der Stanford Encyclopedia of Philosophy zum Regelfolgenparadox von Wittgenstein)
- Artikel: “The Tyranny Of Time” von Joe Zadeh im Noema Mag
- Buch: “Materialfluss – Eine Geschichte der Logistik an den Orten ihres Stillstands” von Monika Dommann
- Blogartikel: “Interesting problems: The Church-Turing-Deutsch Principle” (Blogartikel von Michael Nielsen zum Problem, ob jeder physikalische Prozess von einem universellen Rechner simuliert werden kann)
Quellen und Co
Intro und Outro der Episode stammen aus dem Stück Maxixe von Agustin Barrios Mangore, eingespielt von Edson Lopes (CC-BY).
Das Umblättern zwischen den Teilen des Podcasts kommt hingegen von hoerspielbox.de.
Zwischen zwei Deckeln findest du auch im sozialen Medium deiner Wahl: Mastodon, Instagram und Facebook.
Transkript (automatisch erstellt)
Amanda:
[0:16] Hallo zusammen, ich begrüße euch zur Folge 86 von Zwischen zwei Deckeln. Einem Podcast, in dem wir euch alle drei Wochen ein Sachbuch vorstellen. Und die, die uns schon kennen, wissen, dass wir das nicht alleine machen oder dass ich das nicht alleine mache, sondern wir sind immer zu zweit. Heute mit mir, Amanda, und mit Nils.
Nils:
[0:33] Hallo zusammen.
Amanda:
[0:35] Ja, das ist die erste Folge im Jahr 2025. Die letzte Folge war das Weihnachts- oder wie habt ihr es genannt? Neujahrs-Special oder End of the Year. Jahresabschluss-Special, genau. Und jetzt starten wir wieder mit einem Sachbuch. Ich bin schon sehr gespannt, weil es ist tatsächlich ein Buch, was ich schon zweimal angefangen habe zu lesen, einmal auf Englisch und einmal auf Deutsch, und ich bin nie über das Vorwort oder erste Kapitel hinausgekommen. Deswegen nutze ich sehr gerne die Gelegenheit, dir dabei zuzuhören. Und ich stelle das auch gleich vor, was du uns hier präsentieren wirst heute. Was mich inzwischen beschäftigt oder im Moment beschäftigt, ist etwas etwas Banaleres. Und zwar habe ich letztens von New Adult Romanen gehört, weil das so ein Trend ist auf TikTok.
Nils:
[1:23] Oh Gott. Wohl.
Amanda:
[1:24] Ich habe weder TikTok noch kenne ich mich da mit diesem Genre aus. Aber ich habe jetzt so eine Ausleihe, so einen E-Book-Ausleihe von der Bibliothek begonnen. Und da gab es die auszuleihen, so ein paar von diesen Trend-Büchern. Und da habe ich mich jetzt ein bisschen reingelesen. Und es ist ziemlich, ich sag mal, seicht, aber passt ganz gut, weil ich habe ein neugeborenes Zuhause und bin da um vier Uhr morgens nur mit irgendwie einem Bruchteil meiner Gehirnzellen dabei und deswegen ist das jetzt Literatur, die ich mir geradezu gemühte für. Im Moment ist das ein Buch von, ich weiß gar nicht, wie man die Autorin ausspricht, Mars ist der Nachname. Sarah J. Mars. Sarah J. Mars, ah, kennst du?
Nils:
[2:07] Ja, Autorin, ja, ich habe nichts von ihr gelesen, Aber sie ist gerade so einer der ganz großen Namen in dem Bereich.
Amanda:
[2:12] Genau, ja. Und ich kannte das nicht. Und das Buch oder die Reihe heißt Das Reich der sieben Höfe. Und da bin ich jetzt, das ist auch ewig lang. Deswegen, ich habe bisher ein Prozent davon gelesen, gemäß meiner App. Deswegen kann ich noch gar nicht viel darüber sagen. Ist das ein Prozent der ganzen Reihe? Ja, ja. Also in einem E-Book? Ja, das scheint so, ja.
Nils:
[2:33] Okay, oh Gott.
Amanda:
[2:35] Also da tausende von Seiten, von iPhone-Seiten. Mal schauen, wie sich das entwickelt mit diesem Genre, ob mir das gefällt oder nicht.
Nils:
[2:45] Selbst mit nur wenigen Gehirnzellen bleibst du dem Hobby treu. Sehr schön.
Amanda:
[2:50] Wie sieht es bei dir aus?
Nils:
[2:52] Bei mir geht es tatsächlich gerade, ähnlich wäre gnadenlos übertrieben zu sagen, mein Neugeborener ist schon fünf, aber ich grabe mich gerade noch so ein bisschen aus dem Winterloch, aus den Winterferien irgendwie mental so hervor. Und deswegen gerade noch nicht so konzentriert wieder irgendwas am Tun, am Machen. Ich habe aber vor Weihnachten noch ein Buch zu Ende gelesen, was, glaube ich, auch mein nächstes Buch dann hier im Podcast sein wird. The Eye of the Master von Matteo Pasquinelli. Das ist im Grunde so eine Kulturgeschichte der künstlichen Intelligenz. Ja, weiß ich nicht. Also es ist schwer zusammenzufassen. Es ist irgendwie so eine Automatisierung von Arbeit, Kapitalismus, Technologie, all diese Dinge irgendwie zusammengebracht. Und das habe ich gelesen. Da bin ich jetzt gerade dabei, das ein bisschen für mich aufzubereiten, so in meinem Blog und sowas, um das da reinzuschreiben. Aber wie gesagt, am meisten bin ich jetzt gerade wieder am Arbeiten und irgendwie wieder wach werden nach der Winterpause.
Amanda:
[3:48] Okay, das klingt aber spannend für die nächste Folge auf jeden Fall.
Nils:
[3:51] Ja, also nicht die nächste Folge, für meine nächste Folge. Das wird noch ein paar Wochen oder Monate dauern.
Amanda:
[3:58] Sehr schön. Ja, jetzt zuerst mal das Buch, was du heute vorstellen wirst. Das ist Regeln von Lorraine Destin. Das ist ein Buch, das ist 2023 erschienen. Ich glaube, sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch im selben Jahr. Und Destin ist eine amerikanische Historikerin, Wissenschaftshistorikerin, die aktuell aber auch in Berlin arbeitet. Ich glaube, sie leitet das Institut für Wissenschaftsgeschichte.
Nils:
[4:26] Und Max-Planck-Institut, genau.
Amanda:
[4:28] Genau, das Max-Planck-Institut und hat auch ein paar, also ich finde, ziemlich bekannte Bücher geschrieben. Und das Neueste, oder nicht, vielleicht nicht mal ganz das Neueste, ist eben dieses Regeln. Magst du uns da gleich das TLDL geben?
Nils:
[4:44] Ja, sehr gerne doch.
Nils:
[4:50] Regeln durchziehen nicht nur unsere modernen Gesellschaften, sondern sind schon immer grundlagemenschlichen Zusammenlebens. Doch ihre Bedeutung und Interpretation hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Diesem Wandel geht Lorraine Destin in ihrem Buch Regeln eine kurze Geschichte nach. Sie beschreibt unterschiedliche Arten von Regeln, dicke und dünne oder lokale und universelle und spürt besonders einem Verständnis von Regeln nach, das wir heute verloren zu haben scheinen, den Regeln als Vorbildern oder Paradigmen, die wir nachahmen und an denen wir uns orientieren.
Amanda:
[5:24] Okay, ich bin gespannt. Ich lasse dich einfach mal beginnen.
Nils:
[5:30] Ja, dann beginne ich einfach mal. Es ist tatsächlich gar nicht so ein langes Buch. Ich habe auch ein bisschen gebraucht, um reinzukommen. Also ich kann deinen ersten Impuls so ein bisschen nachvollziehen am Anfang vom Vorwort oder den ersten Seiten so ein bisschen zurückzuprallen quasi. Aber im Endeffekt ist es dann wirklich sehr, sehr ergiebig, auch gerade im Anschluss an das letzte Buch, was ich auch hier im Podcast vorgestellt habe, die Unterwerfung von Philipp Blom. Da fand ich viele so Anschlussmöglichkeiten. Deswegen passt es, glaube ich, jetzt hier auch ganz gut rein. Lorraine Destin fängt an, oder das ganze Buch durchzieht, so eine Unterscheidung von drei verschiedenen historischen Verständnissen von Regeln. Wobei man da jetzt erstmal gucken muss, dass sie auf Englisch schreibt, das heißt, bei ihr sind es Rules und da ist es ein bisschen eindeutiger, warum die drei, warum das drei sind und nicht nur zwei. Das erste, was sie nämlich hat, was dann im Buch aber auch eine untergeordnete Rolle spielt, deswegen ist diese Inkonsistenz nicht ganz so schlimm, ist das Messen.
Nils:
[6:33] Also Dinge zu messen, Dinge zu standardisieren in gewisser Maße, also zu sagen, was ist ein Meter, da irgendwie gemeinsame Maßstäbe zu finden und so weiter und so fort. Oder überhaupt erstmal auch auf die Idee zu kommen, im Grunde Dinge auf so eine Weise zu messen. Das ist ein sehr antikes Projekt, tatsächlich. Und das funktioniert eben im Englischen mit Rule, funktioniert das irgendwie intuitiver. Da gibt es ja auch den Ruler, also das Lineal. Im Deutsch mit den Regeln ist das irgendwie nicht so ganz intuitiv, dass das auch ein Verständnis ist. Aber es ist ohnehin das, was auch in ihrem Buch eigentlich, was sie zwar rekonstruiert, irgendwie ein Kapitel, was dann aber eigentlich keine Rolle mehr spielt, deswegen werde ich es hier auch im Podcast halbwegs außen vor lassen. Und dann kommen die zwei anderen Relevanten, die sie so ein bisschen historisch in der Abfolge verortet, nämlich einmal dieses Verständnis, das ist das, was ich gerade schon im TLDL auch hatte, von Regeln als Vorbilder oder Paradigmen.
Nils:
[7:38] Und einmal die Idee von Regeln eben tatsächlich als Gesetze. Also als irgendwelche universal gültigen Aussagen, die entweder Universalgültigkeitsanspruch haben oder halt irgendwie, wie jetzt rechtliche Gesetze irgendwie sagen, das gilt jetzt auf einem gewissen Gebiet oder für eine gewisse Zeit oder sowas. Also das sind diese beiden Perspektiven, wir gucken uns die gleich im Detail noch genauer an. Und dann sind für sie auch noch zwei Arten von Welt so ein bisschen relevant im Gegensatz. Das ist einmal eine Welt, also Welt im Sinne von, ja, worin diese Regeln sich bewegen, worin diese Regeln gelten, was diese Regeln versuchen zu kontrollieren. Das ist einmal eine komplexe, vielfältige, dynamische Welt und einmal eine stabile, berechenbare, standardisierte Welt.
Nils:
[8:30] Das sind so die zwei Unterscheidungen, die sie aufmacht, wobei die mit den Regeln im Grunde die ist, um die es ihr geht und die andere, die greift sie nur auf, um das so ein bisschen zu vereinfachen. Das wird jetzt gleich in meiner Vorstellung aber auch immer mal wieder auftauchen und miteinander interagieren.
Nils:
[8:47] Ich hatte gerade schon noch eine weitere Unterscheidung genannt, die im TLDL zwischen dicken und dünnen Regeln, das ist vielleicht auch die erste, mit der wir mal anfangen, oder beziehungsweise mit den dicken Regeln. Das ist was ähnliches oder anders angefangen. Dicke Regeln bezeichnen sich dadurch aus, dass es nicht nur die Regel selber ist, sondern dass diese Regel sehr, sehr komplex ist, dass sie viele Ausnahmen, viele Erläuterungen, Fallunterscheidungen, Beispiele, Analogien, verbundene Geschichten und so weiter haben. Also man kann sich darunter sowas vorstellen, wie zum Beispiel eine religiöse Lehre. Die jetzt nicht so ihre Gesetze in dem Sinne hat, aus A folgt B, sondern die eben eher in Metaphern, in Bildern, in Vorbildern, in Geschichten, in Analogien und so weiter agieren. Und dann haben wir eben dünne Regeln. Dünne Regeln sind die Regeln, wie wir sie heute zum Beispiel aus Gesetzen kennen oder wie wir sie kennen aus den Naturwissenschaften ganz viel. Das ist halt eine Regel, das ist diese eine Formel oder dieser eine Satz oder dieser eine Zusammenhang und der gibt uns sozusagen an, was passiert, was zu passieren hat oder auch wie wir irgendetwas verstehen oder interpretieren sollen.
Amanda:
[10:05] Okay.
Nils:
[10:06] Also dicke Regeln sind halt dicke, also ich habe mir das mal so vorgestellt, dicke Regeln sind dicke Bücher und dünne Regeln sind halt so kleine Sätze. Diese Unterscheidung mappt jetzt in dem wie ich das vorstellen möchte relativ stark auf diese beiden Verständnisse von Regeln also die einmal Regeln als Vorbilder und Paradigmen und einmal Regeln als Gesetze ist jetzt vielleicht in der Vorstellung der Unterscheidung schon klar geworden und ich möchte jetzt mal mit dieser Idee von Regeln als Vorbilder und Paradigmen anfangen sie nennt das im Englischen Models und Paradigms Aber Model würde ich jetzt im Deutschen eher nicht als Modell übersetzen, sondern eher als Vorbild. Ich weiß tatsächlich gar nicht, wie das die offizielle deutsche Übersetzung tut, weil ich das englische Buch gelesen habe. Aber ich verwende hier den Griff Vorbilder. Also falls ihr das im englischen, das deutsche Buch gelesen habt und es da Modelle heißt, dann sind das Modelle im Sinne von Vorbildern, von Models, an denen man sich orientiert. Nicht Modelle im Sinne von irgendwelchen abstrakten Modellierungen sozusagen.
Nils:
[11:11] Und was diese Paradigmen und Vorbilder auszeichnet, ist, dass diese Art, über Regeln zu denken, oder diese Art von Regeln, sowohl allgemeine als auch konkrete Ebenen abdecken kann. Was heißt das genau? Sie kommt mit einem Beispiel, was ich ganz spannend fand, wo ich jetzt inhaltlich relativ wenig Ahnung habe. Ich gebe das jetzt mal so wieder, wie sie das genannt hat. Sie nennt zum Beispiel den klassischen mittelalterlichen Abt in einem Kloster da als ein sehr gutes Beispiel, weil der im Grunde zwei Rollen hat. Der hat auf der einen Seite die Rolle selber als Vorbild zu agieren also, er, die Weise wie er agiert gerade was Glauben angeht was die Arbeit im Kloster angeht, was sein Verhalten angeht das ist nicht nur halt wie er agiert sondern er hat auch explizit die Rolle dass andere ihn nachahmen, dass andere so handeln wie er handelt dass sie sich von ihm Entscheidungswege Entscheidungskriterien abgucken.
Nils:
[12:09] Und so weiter Das ist das eine, das ist dieser Vorbildaspekt. Und dann kommt dieser Paradigmenaspekt, dass er eben auch Entscheider ist, der eben in diesem komplexen religiösen Regelwerk Entscheidungen trifft oder auf Grundlage dieses Regelwerks Entscheidungen trifft. Aber dieses Regelwerk ist halt kein Regelwerk nach dem Prinzip, wenn A, dann B, sondern ist das ein komplexes Geflecht. Ich habe diese Reihe von Dingen gerade schon mehrfach genannt aus Analogien, aus Parabeln, aus Geschichten, aus Beispielen, aus doch vielleicht auch Glaubenssätzen, aus Ausnahmen, aus Illustrationen, aus Bildern, was auch immer. Also es ist so eine ganz komplexe Sammlung an Dingen im Grunde. Vielleicht auch ab und an mal irgendwie so ein Satz, nur du sollst nicht, so was haben wir ja durchaus auch.
Nils:
[13:00] Aber all diese Dinge sind halt nicht in sich widerspruchsfrei. Das ist ja auch was, was man Religion gerne vorwirft, gerade zu den religiösen Regeln, dass die irgendwie in sich völlig widersprüchlich werden und nicht miteinander Einklang zu bringen wären. Das ist, so wie Destin das hier vorstellt, eigentlich gar nicht so schlimm oder kein grundlegendes Problem des Systems, weil es eben nicht darum geht, wie wir das heute kennen, für jede Situation eine konkrete Entscheidungsregel vorzugeben. Also wie ein Richter, der sozusagen im Gesetz nach dem Fall sucht und dann sagt, okay, das ist dieser Fall und daraus folgt jetzt diese Entscheidung, diese Strafe oder diese Verhaltensvorschrift, was auch immer, sondern es ist immer die Person, die in einer konkreten Situation eben mehr oder weniger alles über diese Situation weiß, also das Konkrete weiß und einen großen Teil dieses abstrakten, teilweise auch konkreten Regelwerkes im Hintergrund hat. Und im Grunde in der Kombination aus diesen beiden Dingen eine Entscheidung trifft.
Amanda:
[14:04] Okay.
Nils:
[14:05] So, das heißt, was ein Begriff ist, der da in dem Bereich ganz groß ist, den nennt Lorraine Destin interessanterweise gar nicht, aber das wäre das, was wir heute Ermessen nennen. Wo man sagen würde, das ist eine Ermessensentscheidung, also wo man irgendwie sagen kann, da kann das Amt zum Beispiel so oder so handeln. Das spielt hier eine viel, viel zentralere Rolle. Weil es eben nicht diese Standardregel gibt, sondern der Abt in der konkreten Situation immer in der Lage ist zu entscheiden, okay, welche Regel wiegt jetzt gerade schwerer, mit welcher Situation in der Schrift lässt sich das vergleichen, wie ist diese Situation, wie ist diese Geschichte in den letzten Jahrzehnten irgendwie ausgelegt worden, was ergibt sich daraus? Gibt es hier vielleicht irgendwie eine konkrete Grund davon, auch mal eine Ausnahme zu machen? Beispielsweise aus einer persönlichen Situation, aus einer Konstellation von unglücklichen Umständen oder ähnlichem. Das ist das, was hier auf einmal eine ganz starke Rolle spielt. Das wirkt für uns heute so ein bisschen fremd. findest du?
Amanda:
[15:14] Das finde ich nicht es klingt so ein bisschen dialektisch man hat wie zwei man macht die Synthese aus dem Konkreten und nimmt das abstrakte was dazu das man im Hintergrund hat und dann trifft man eine Entscheidung, wieso findest du das fremd?
Nils:
[15:30] Ja stimmt das ist ein guter Punkt, ich glaube es ist fremd, wenn man es auf sowas anwendet wie ein Rechtssystem.
Amanda:
[15:37] Aha, ja.
Nils:
[15:38] Also wenn man sagt, es ist irgendwie eine richterliche Entscheidung zum Beispiel basiert darauf, dann würde man ja jetzt doch schnell dahin kommen zu sagen, das hat viel von Willkür, weil eben diese eine Person entscheiden kann, welche Regel jetzt gilt, so ungefähr, oder ob jetzt vielleicht doch eine Ausnahme möglich ist oder so. Andererseits sind das auch genau die Punkte, wo wir ja mit unserem Rechtssystem immer mal wieder hadern sozusagen, weil es genau diese Dinge nicht erlaubt. Ja, okay. Also ja, stimmt, so für sich selber, für das eigene Leben macht man das vielleicht tatsächlich so, stärker so, aber so als Entscheidung, ja, fühlt sich das für mich fremd. Also Destin unterscheidet da jetzt gar nicht so sehr, Regeln ist dabei sehr allgemein, also sowohl sowas wie Gesetze, als auch wie führe ich mein eigenes Leben oder so, das ist alles irgendwie so zusammengemanscht.
Amanda:
[16:28] Okay, ja.
Nils:
[16:29] Aber das ist diese Idee eben von Vorbildern und Paradigmen, dass man eben nicht sagt, ich folge einer Regel, wenn A, dann B, sondern ich folge dem, was eine Person tut. Oder ich bewege mich eben in diesem komplexen System aus widersprüchlichen Regeln, Gedanken, Ideen, Überzeugungen und versuche da irgendwie eine möglichst konkrete, passende Entscheidung für die konkrete Situation zu treffen.
Amanda:
[16:54] Mhm, okay. Okay.
Nils:
[16:57] Das wandert dann bei ihr auch, sie ist eben eine Wissenschaftshistorikerin, auch immer so ein bisschen in die Idee Wissenschaft, also wie sieht Wissenschaft denn dann in dieser Situation aus und was macht Wissenschaft? Oder jetzt in dem Fall auch einfach Handwerk und Kunst. Das ist da auch nochmal ein schönes Beispiel, weil sie eben auch sagt, dass diese Regeln in diesem Modell immer ganz eng mit der konkreten Praxis verbunden sind. Das heißt, die sind nicht universell, in dem Sinne, das ist die eine Regel und die gilt immer, sondern das ist halt die Regel, die gilt in dem Ort. Weil in dem Ort gibt es diese Art von Baustoff und dieser Baustoff ist ein bisschen feuchter als der Baustoff im Nachbarort. Und deswegen gilt im Nachbarort eine andere Regel, weil da ist der Baustoff trockener, mit dem muss man anders umgehen. Und diese Regeln werden eben auch nicht, das fand ich ganz spannend, wenn man eben in frühe Schriften guckt, was auch jetzt Erklärungen angeht in der Kunst und im Handwerk, so eine Art frühe Lehrbücher auch, die haben sich nie an komplette Anfänger gerichtet. Also es war nie das, was wir heute kennen, irgendwie so, du fängst bei nix an und wirst dann so langsam irgendwo hingebracht, sondern die haben immer darauf aufgebaut, dass eine grundlegende Praxis schon da ist. Dass die Leute das Grundlegende schon kennen, auch in diesem Handwerk in Handgriffen geübt sind, bestimmte Begriffe schon kennen und dann quasi darauf aufbauend Orientierung bieten, auf Muster hinweisen und Dinge irgendwie weiter erklären.
Amanda:
[18:25] Okay, das ist interessant. Das erinnert mich an, kennst du das Regelfolgenparadox? Hast du davon schon gehört? Das ist ein philosophisches Paradoxon von Wittgenstein, wo er eigentlich auch diese Regelbefolgung untersucht. Und im Endeffekt geht es darum, um die Frage oder um das Problem, wie können wir wissen, ob wir eine Regel überhaupt richtig befolgen.
Nils:
[18:52] Okay.
Amanda:
[18:53] Weil du kannst das natürlich, es gibt wie ein Regress, oder? Weil eine Regel ist ja auch sprachlich. Also es geht vor allen Dingen in der Sprachphilosophie dann, also bezieht er es natürlich, Wittgenstein, geht es darum, wenn das sprachlich definiert ist, wie können wir dann auch sicherstellen, dass wir das richtig interpretieren, was wir aus der Regel dann folgen. Also es ist wie nur ein Stück weit noch zurück und er sagt dann, oder wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sagt er eben auch, es ist eben nicht, dass Regelfolgen, das kann man gar nicht objektiv sozusagen irgendwas festmachen, also es gibt nicht metaphysisch irgendwie eine Garantie zu sagen, das ist jetzt die korrekt befolgte Regel oder nicht, sondern es folgt immer aus der Praxis, also sozial und aus dem Kontext und so weiter. Also es ist eigentlich das Gleiche und die gleiche Antwort, sage ich mal, für eine noch grundlegendere Frage, wenn es um Regeln geht.
Nils:
[19:44] Ja, das ist eine gute Analogie. Ich habe jetzt, als du das erklärt hast, habe ich dann wieder an Habermas und seine nicht kontraktuellen Grundlagen des Vertrages denken müssen. Also dass ein Vertrag immer auch darauf angewiesen ist, dass Leute sich auch an einen Vertrag halten wollen.
Amanda:
[19:58] Ja, genau.
Nils:
[19:58] Dass der nicht alleine in der Lage ist, sozusagen einen Austausch zu garantieren oder Konformität zu garantieren, sondern dass der immer darauf angewiesen ist, dass es eine grundlegende Übereinstimmung zwischen den Menschen gibt, dass Verträge einzuhalten sind. Genau das geht glaube ich in die ähnliche Richtung und mir ist es hier halt ganz ganz wichtig, in dieser Situation bei dieser Art von Regeln also wie gesagt Regeln auch als Handwerker wie gehe ich vor oder als Künstler wie mache ich bestimmte Dinge, dass da die Person die interpretiert und entscheidet immer gleich mitgedacht ist also diese Regelsysteme funktionieren nicht ohne, Ohne eine kompetente Person, die irgendwie eine gewisse Bildung in diesem Bereich hat, die das Regelsystem auf eine gewisse Weise kennt und sich darin bewegen kann, aber eben gleichzeitig auch immer eine konkrete Person ist, in einer konkreten Situation, mit einem konkreten Gegenüber oder mit einem konkreten Werkstoff vor sich und eben nicht irgendwie so ein abstraktes, abstrakte, berechenbare Ding, die irgendwie für alle immer gleich funktioniert.
Amanda:
[21:03] Ja.
Nils:
[21:04] Okay, und das ist, glaube ich, hier nochmal ein ganz wichtiger Punkt, weil, das schließt auch ganz schön an, ich hatte in einer ganz frühen Episode, ich glaube, es war Episode 8, hatte ich hier ein anderes Buch von Lorraine Destin vorgestellt, Objektivität, da macht sie das Ganze, macht sie was ähnliches auf, da geht es um die Objektivität von wissenschaftlichen Abbildungen. Und sie schreibt halt da eben auch, früher, also 17. Jahrhundert, 18. Jahrhundert, 19. Jahrhundert, waren das in erster Linie Zeichnungen, die irgendwie als solche Zeichnungen verständlich waren. Also da läuft es ein bisschen andersrum. Während das jetzt im 20. Jahrhundert, im 21. Jahrhundert immer noch stärker, werden wissenschaftliche Abbildungen viel mehr so abstrakte Visualisierungen von irgendwas, wo man ziemlich viel Ausbildung braucht, um die überhaupt zu verstehen. Also wenn ich auf eine Zeichnung irgendwie von einem Tier gucke aus dem 19. Jahrhundert, dann kann ich auch als Laie relativ viel daran erkennen. Wenn ich aber irgendwie auf eine CT-Aufnahme schaue, dann sehe ich da als Laie erstmal relativ wenig.
Nils:
[22:13] Oder auf irgendeine Visualisierung von physikalischen Messgrößen in einem kernphysikalischen Experiment oder irgendwas. Da kann ich nichts dann erkennen, als jemand, der nicht wirklich massiv Ahnung hat in dem Bereich. Und so ist es hier im Grunde andersrum, dass ich mich im Grunde in diesem Regelsystem, nicht bewegen kann, wenn ich nicht auch eine Verankerung, eine Verortung in dieser Praxis habe.
Nils:
[22:38] Und dann auch stark verkörpert, das ist was, da werden wir gleich auch um was Mathematik angeht, nochmal kurz zu kommen. Aber das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es gibt einen Aspekt, wo wir das hier in unserer Welt tatsächlich auch noch haben, diese Art von Regelsystem. Das ist nämlich das angelsächsische Case Law. Also die englische… Was ist das? Also vor allem die englische und amerikanische Art der Rechtsprechung und Rechtsetzung, wo es zwar natürlich auch sowas gibt wie Gesetze, wo aber viel größerer Wert auch gelegt wird auf irgendwelche Interpretationsgrundsätze und aber vor allen Dingen auch auf Präzedenzfälle. Also welcher andere Fall war denn so ähnlich? Und ist jetzt der Fall A die bessere Analogie oder der Fall B die bessere Analogie? Also diese Gedanken und Argumentation, das ist tatsächlich so eine Art, wo sich dieses Denken auch in der heutigen Welt noch viel wiederfindet.
Nils:
[23:37] Was diese Art von Regelsystem auch auszeichnet, das fand ich dann besonders spannend, damit ich mich da bewegen kann, brauche ich diese Regeln, diese Beispiele, diese Geschichten, diese Analogien im Grunde sofort abrufbar. Wenn ich darin denke, dann kann ich nicht erst, also ich kann natürlich auch irgendwie ein bisschen gezielt suchen oder so, aber ich brauche einen gewissen Grundstock in meinem Kopf drin, damit ich eine Situation überhaupt erstmal einordnen kann. Damit ich sagen kann, ja, das geht so ein bisschen in die Richtung von der Parabel oder das passt hier zu dem Gleichnis, das passt hier zu der Geschichte, in dem Buch, in der Bibel und so weiter und so fort. Und da habe ich dann für mich, das hat Destin nicht gemacht in ihrem Buch, aber ich habe mir ein bisschen so den Gedanken gehabt, das könnte auch was mit dem auswendig lernen in der Schule zu tun haben. Warum es vielleicht doch auch manchmal sinnvoll sein kann, bestimmte Dinge auswendig zu lernen, damit man sie genau in solchen Denksystemen abrufen kann.
Amanda:
[24:34] Ja, das ist, kennst du Vera Birkenbiel?
Nils:
[24:39] Ja, dem Namen nach mehr als inhaltlich, aber ja.
Amanda:
[24:42] Und sie hat das mal in so einem Gespräch gesagt, sie nennt das das Wissensnetz. Und ich finde das eine super Analogie, weil man halt echt so, genau, also man hat wie ein Netz von Regeln und dann kann da was hängenbleiben. Und wenn man das eben nicht hat, dann hat man auch keine Referenz, wie man die anwenden soll oder kann oder wie man in einer konkreten Situation da agiert. Also ich habe auch genau, jetzt, als du es erzählt hast, ist mir das auswendig in den Sinn gekommen. Macht Sinn.
Nils:
[25:13] Ich muss auch immer wieder dran denken, Ich habe gerade ganz oft Religion als Beispiel gebracht. Heutzutage gibt es auch mit dem religiösen Extremismus meistens in dem Sinne Probleme, als dass der dazu neigt, die Schriften sehr wörtlich zu verstehen. Das haben wir im Grunde in allen Bereichen, das haben wir im Christentum mit den Evangelikalen, das haben wir mit bestimmten Schlagrichtungen des Islamismus gibt es das, dass da Regeln sehr wörtlich genommen werden, so wie sie da stehen. Und das macht sie auch nicht explizit, aber das scheint mir auch ein Problem zu sein, dass man eben diese Elemente dieser dicken Regel als eigenständige dünne Regel versteht. Also dass man sagt, irgendwas, im Islam ist das sehr deutlich, weil da einfach sehr viel vorbildhaftes Handeln, da ist dieses Vorbild-Element sehr groß, sehr hochgehängt. Wie hat der Prophet damals gehandelt und wir handeln genauso. Dass das eben das damalige Handeln, das Einmalige als eine absolute Regel, als ein Gesetz verstanden wird und nicht als eine ein Handeln einer konkreten Situation, das vielleicht auf irgendwelchen fundamentalen Grundsätzen basiert und auch einen normativen Charakter ruhig haben soll, aber eben nicht als absolute Regel das steht.
Amanda:
[26:30] Gut, das könnte man auch verallgemeinern oder auf alles. Also wenn man anstatt Regeln irgendwie eine Idee nimmt, die ist ja nicht ihrem Entstehungskontext verpflichtet. Also sie entsteht immer wieder neu.
Nils:
[26:41] Ja, sie ist ihrem Entstehungskontext verpflichtet.
Amanda:
[26:44] Nee, eben nicht, oder? Weil sie halt eben in einem neuen, unterschiedlichen Kontext wieder anders interpretiert wird.
Nils:
[26:50] Ach so, okay. Ja, sie ist verpflichtet insofern, dass sie aus einem kommt und dass sie ohne den nicht verstanden werden kann. Aber sie kann natürlich übertragen und anderswo anders angewendet werden.
Amanda:
[26:59] Genau, ja.
Nils:
[27:00] Gut, da haben wir, glaube ich, einfach nur das verpflichtet anders interpretiert.
Amanda:
[27:03] Genau.
Nils:
[27:05] Also das ist so ein bisschen die alte Welt, sage ich jetzt mal. Das ist natürlich nie so ganz monokausal. Oder ganz gerichtet, wie das jetzt in der Vorstellung klingt. Aber das ist so ein bisschen die alte Welt, eben das alte Regelverständnis. Und das ist das Verständnis von Regeln, wo Destin sagt, das ist ein bisschen verloren gegangen. Das wird weniger relevant. Und was viel mehr relevant wird, sind eben die klaren Gesetze. So die klaren Regeln, die sich leicht aufschreiben lassen. Und so weiter. Und da geht sie einen interessanten Weg, der mich erst mal ein bisschen überrascht hat, den ich aber inhaltlich extrem spannend fand. Und sie guckt nochmal, wo kommt denn eigentlich das prototypische Gesetz, die prototypische dünne Regel, die mathematische Formel, wo kommt die eigentlich her? Und da guckt sie eben auch einmal zurück in die Antike, in die frühen Beschreibungen von eben solchen Regeln und mathematischen Algorithmen und beschreibt eben auch da, dass das ganz oft eben nicht, oder meistens nicht eben in irgendwie so eine abstrakte Formelform niedergeschrieben wurde, sondern als Handlungsanweisung.
Nils:
[28:21] Also wirklich wie man jetzt einem kleinen Kind vielleicht erklärt, wie rechnest du 3 plus 2 du nimmst drei Finger und dann machst du nochmal zwei dazu und dann zählst du sie nochmal also wirklich als eine physische Handlungsanweisung für mathematische Vorgehensweisen, also heute kennt man das noch so ein bisschen aus der Geometrie, da geht man ja teilweise noch so vor, dann nimmst du einen Zirkel und dann legst du es lineal an und dann drehst du es so und dann kommt am Ende das bei raus, Also wirklich als Mathematik, als Handlungsanweisung und nicht als Formel. Wir nehmen das immer noch so ein bisschen als Brücke, damit die Leute so ein bisschen lernen, um überhaupt mal reinzukommen. Aber da war es halt tatsächlich die Hauptform, wie das dokumentiert und auch entwickelt wurde. Und dann eben auch ganz eng mit den Werkzeugen verbunden, die dafür genutzt wurden. Eigentlich auch eine ganz spannende Beobachtung. Und dann kommt sie im Grunde zu einem Thema, was da so ein bisschen für sie eine Brücke darstellt. Das ist dieser ganze Gedanke der Automatisierung und der Berechnung, also der Computerisierung im Grunde. Da bin ich mir jetzt gar nicht mehr so, warum sie diesen Sprung macht. Er weiß sich halt super spannend, aber ich weiß nicht mehr, warum sie ihn macht.
Nils:
[29:34] Sie kommt im Grunde von ganz am Anfang mal, Arbeitsteilung als Idee ist jetzt nie hat es immer schon so ein bisschen gegeben aber wurde halt das erste Mal massiv schriftlich festgehalten in der Form von Adam Smith sein klassisches wie wird eine Nadel hergestellt und nicht einer, 20 Leute machen jeweils eine Nadel sondern 20 Leute machen einen Schritt und kriegen dann derselben Zeit irgendwie 100 Nadeln produziert, Und die erste echte Anwendung davon, das ist jetzt das, was mich überrascht hat, war tatsächlich nicht in der Produktion von irgendwas, sondern in der Mathematik.
Nils:
[30:12] Nämlich, als um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert, also Ende 18., Anfang 19. Jahrhundert, große Tabellenwerke erstellt werden sollten für astronomische Berechnungen. Das waren vor allem Logarithmen, die damals erstellt werden mussten. Gaspar de Prony war da ein ganz prominenter Name.
Nils:
[30:33] Und was der im Grunde gemacht hat, dass er gesagt hat, wir nehmen jetzt diese intellektuelle Arbeit, dieses Berechnen dieser Logarithmen, was durchaus aufwendig ist, und wir machen daraus jetzt im Grunde eine physische Arbeit. Wir teilen diese Arbeit auf. Das heißt nicht, ich muss hier diese 10.000 Logarithmen berechnen, sondern ich erarbeite irgendwie ein System, wie mehrere hundert bei weitem mathematisch nicht so gut ausgebildete MitarbeiterInnen oder Menschen, die waren ja wahrscheinlich noch keine MitarbeiterInnen im heutigen Sinne, wie die das mit einfachen Rechenschritten so formularisch machen können. Indem sie einfach immer nur irgendwelche kleinen Zahlen addieren zum Beispiel. Ohne Logarithmen rechnen zu müssen. Und das wurde dann auch tatsächlich so durchgeführt. Das heißt, da sind dann wirklich mit einem relativ hohen organisatorischen und logistischen Aufwand diese Berechnungen, diese Formulare für diese Berechnungen sozusagen verteilt worden. Und dann haben da, oder diese Prozeduren vermittelt worden und dann haben da wirklich ganz viele Menschen gesessen und kleine, einfache Rechnungen gemacht, um damit diese großen Mengen an Logarithmen, die es zu berechnen, galt für die Tabellenwerke zu berechnen.
Nils:
[31:58] Und das ist interessant, was jetzt daraus dann weiter passiert und das ist dann auch wieder ein Name, den kennt man vielleicht mehr als Gaspard de Prony, das ist eine Arbeit, an die hat dann Charles Babbage angeschlossen, den man ja gemeinhin als Erfinder des Computers oder der automatisierten Rechenmaschine sieht.
Nils:
[32:16] Der hat nämlich genau das, was Proni da gemacht hat, gesehen und hat versucht, es zu automatisieren. Also nicht nur auf viele Menschen zu verteilen, sondern tatsächlich zu automatisieren. Und dann das eben zusammen mit Ada Loveless dahin weiterentwickelt, dass das eben nicht nur für diesen Algorithmus geht, sondern für grundsätzlich alle oder für mehr. Für viele Algorithmen. Das heißt, was wir da jetzt für einen Nebenstrang haben, ist hier im Grunde das Argument, dass die Arbeitsteilung der Automatisierung vorausgeht. Das heißt, dass nicht irgendwie eine Technik erfunden wird und damit wird dann die Arbeit automatisiert, sondern dass erstmal die Arbeit auf ganz viele Menschen verteilt wird, die nicht sonderlich viel können müssen. Und wenn das dann klappt, dann können diese Menschen, die nicht sonderlich viel können müssen, durch die Maschine ersetzt werden.
Amanda:
[33:07] Okay, das ist, das klingt für mich ein bisschen nach, ich habe einen Artikel gelesen, dort wird das Church-Turing-Deutsch-Principel genannt und also die These ist da, dass eigentlich jeder physische Prozess oder physikalische Prozess simuliert werden kann von einer universellen Maschine eigentlich. Und das, also ist das ungefähr das, was gemeint ist?
Nils:
[33:31] Ja, es geht ja mehr als ums Simulieren. Okay. Es geht ja wirklich ums Tun, hier an der Stelle. Es geht ja wirklich darum, dass diese Berechnung, also bei Berechnung ist es noch offensichtlich, aber es geht dann ja später auch um die tatsächliche Produktion. Da ist es dann mit dem Simulieren halt nicht mehr getan. Aber es geht, glaube ich, tatsächlich in eine ähnliche Richtung, ja.
Amanda:
[33:49] Okay.
Nils:
[33:50] Was ich jetzt nur spannend finde, weil dieser Gedanke, dieser Punkt ist genau der Punkt, an dem jetzt das Buch, was ich gerade gelesen habe, das ist von Matteo Pasquinelli, The Eye of the Master, an dem das ansetzt. Das vertieft das im Grunde nochmal massiv. Und er zitiert auch tatsächlich explizit Destin, das fand ich ganz lustig, weil ich die Bücher direkt hintereinander gelesen habe, ohne dass mir das vorher bewusst gewesen wäre.
Amanda:
[34:10] Das liebe ich, wenn das passiert.
Nils:
[34:15] Das ist aber jetzt eben, diese Entwicklung ist halt ein spannendes Phänomen, weil was das eben dann im Endeffekt macht, gerade dann auch wenn die Automatisierung da war, dass das aus dieser intellektuellen, also der psychischen Arbeit, im Grunde physische Und da gibt es ein schönes Beispiel. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurden in den USA die sogenannten Holleritmaschinen eingesetzt im Bereich des Zensus.
Nils:
[34:42] Und da war es irgendwie notwendig, mehrere zehntausend Summen zu erstellen aus irgendwelchen Zahlen, die aus sieben unterschiedlichen Tabellen kommen. So, das war im Grunde die Aufgabe, die da bestand. Und statt dass das eben einige mathematisch gebildete und fähige Menschen tun, ist es eben an diese Hollerit-Maschinen übergeben worden. Und das bedeutete, dass zwölf Millionen Zahlen auf 300.000 Karten eingeprägt, also Punchcards gelocht werden mussten. Und das ist natürlich ein unglaublicher physischer Akt. Und es ist auch eine Art von physischer Arbeit, die so aus der Arbeitswissenschaft weiß man, das extrem belastend ist, weil sie ist auf der einen Seite unglaublich monoton, aber verlangt die absolut volle Aufmerksamkeit. Ja, klar. Weil man sich eben nicht vertun darf. Man macht immer dasselbe, man nimmt immer einen Stanzer und ein Stanzloch in eine Karte, ein Stanzlöcher in Karten. Man darf sich dabei aber nicht vertun. So, und das ist so für die mentale Belastung und auch für physische Belastung eine der schlimmsten Kombinationen, die man sich so vorstellen kann. Abseits jetzt von manifester Ausbeutung und so, davon reden wir jetzt nicht. Und das war wohl auch tatsächlich so, dass diese Belastung der Menschen, die das gemacht haben damals, einer der Gründe war, warum grundsätzlich die Arbeitszeiten verkürzt wurden.
Nils:
[36:11] Weil die eben nicht über die ganze Zeit das durchgehalten haben. Was jetzt hier passiert ist, ist aber auch gleichzeitig, das hatte ich gerade schon angedeutet, dass diese intellektuelle Arbeit des Berechnens massiv dequalifiziert wurde. Weil die Berechnung jetzt eben von automatisierten Maschinen oder eben von Menschen, die nur kleine Summen bilden müssen, irgendwie gemacht werden konnte. Also das fand ich einen sehr spannenden Schritt und ich glaube, der Ersten nimmt diesen Schritt auf, weil es halt hier genau darum geht, diesen Schritt im Grunde von der Praxis, von dem Verkörperlichten, von dem sehr eng an den Menschen gebundenen weg zu so einer abstrakten Prozedurierung, wo der Mensch im Grunde nur noch ausführendes Organ im Grunde ist, hinzugehen. Und das dann wiederum so ein bisschen zu diesen dünnen Regeln führt oder zu den Gesetzen, die sie da irgendwie, die sie da aufgreift.
Nils:
[37:10] Genau, sie geht dann auch noch so ein bisschen auf Gesetze, jetzt tatsächlich im Sinne von Gesetzen, wie wir sie rechtlich kennen. Also das war jetzt ja eher so ein Zwischending. Jetzt geht es auch noch um rechtliche Gesetze. Da hat sie ein ganz schönes Kapitel, das ich jetzt aber auch nicht im Detail aufdrösel, wo sie mal guckt, also erst mal unterscheidet sie zwischen Gesetzen, Regeln und Regulierung.
Nils:
[37:34] Gesetze sind sehr allgemein, sehr knapp, sehr kurz. Kurze Regeln sind dann schon so ein bisschen konkreter irgendwie runtergebrochen und Regulierung ist dann so das, was unten im Amt sozusagen dann tatsächlich vorgibt, wenn hier eins steht, dann macht das, wenn hier zwei steht, das macht das, dann macht das. Was sehr, sehr kleinteilig werden kann und sie überlegt dann an zwei Beispielen, wann sich sowas eigentlich durchsetzen kann, wann sich so eine Regulierung, die von oben geplant ist eigentlich durchsetzen kann und sie hat da drei spannende Beispiele, sie hat einmal das Beispiel der Regulierung von Konsum, Also es gibt zum Beispiel, es gibt wohl eine lange Geschichte, mir war das auch nicht so bewusst, von Regeln, was man eigentlich anziehen darf, was man besitzen darf, wer wie viele Dinge von welcher Qualität kaufen darf, welche Hüte, welche Mäntel, welcher Schmuck an Mänteln sein darf und so weiter. Es gibt es wohl tatsächlich im letzten Jahrhunderten sehr lange immer wieder versucht worden und es hat nie wirklich funktioniert. Es gab dann teilweise sehr, sehr massive Regeln, es darf nur drei Knöpfe aus diesem Holz an einem Mantel geben und nicht vier, aber diese Regel wurde dann halt nicht durchgesetzt, also die Regel war sehr detailliert, aber wurde halt quasi nicht durchgesetzt.
Nils:
[38:51] Das eine Beispiel, das andere Beispiel was sie bringt, ist ein sehr anderes, ist die Rechtschreibreform, das hatten wir ja in Deutschland vor, wann hatten wir das, 25 Jahren irgendwas in der Größenordnung, hatten wir darüber ja große Diskussionen wie verändert sich jetzt irgendwie unsere Rechtschreibung, es hat sich jetzt irgendwie halbwegs etabliert und es gibt nicht mehr ganz so viele, die da noch irgendwie hinterher quaken, und dann haben wir eben noch das Thema wie man Städte regulieren kann in dem Sinne, dass eben Müll rausgestellt wird, dass Autos auf einer Straßenseite fahren, und so weiter und so fort. Also das ist so ein bisschen die Beispiele, die sie ein bisschen historisch nachzeichnet. Das ist ganz nett zu lesen. Wichtig ist halt, dass diese Gesetze oder für ihre übergreifende Argumentation ist halt besonders wichtig, dass so eine funktionierende Regulierung, also auch schon auf der kleinteiligen Ebene, dazu führt, dass die Welt deutlich vorhersehbarer und kontrollierbarer wird. Weil man eben viel besser vorauslegen kann, was andere Menschen tun und was auch irgendwie passiert. Klassisches Beispiel, die Regulierung der Krümmung von Gurken. Das ist ja so ein EU-Beispiel, was immer gerne genannt wird. Im Kern gibt es…
Amanda:
[40:05] Sind es nicht die Bananen, sind es Gurken?
Nils:
[40:07] Ich glaube, es war tatsächlich bei Gurken, dass die nicht zu sehr gekrümmt sein durften. Was einfach damit zu tun hatte, damit eine berechenbare Anzahl von Gurken in die Standardcontainer passt.
Amanda:
[40:18] Klar, macht Sinn, ja.
Nils:
[40:19] So, klar, auf einmal ist es vorhersehbar und kontrollierbar. Auf einmal weiß ich, okay, ich habe jetzt den Standardcontainer, da sind jeweils 50 Gurken drin, ich habe ja 500 Gurken. So, und das weiß dann auch jeder, der diese zwei, oder der diese eine Information hat, kann das sofort sich ableiten. Da brauche ich keine große Praxis oder viel Erfahrung oder irgendwas. Ich muss nicht eins in die Hand nehmen und das mit der Hand abbiegen oder ein anderes daneben und sagen, hier sind vielleicht zehn drin, hier sind wahrscheinlich nur acht drin. Sondern es ist einfach standardisiert, Punkt. Das macht die Welt vorhersehbar, das macht die Welt kontrollierbar. Natürlich nur, wenn sich diese Norm und diese Regulierung auch tatsächlich etabliert. So, das war der Gedanke von Gesetzen. Sie führt das dann weiter zu einem auch wieder spannenden Punkt, nämlich zum Thema Naturgesetze. Und da haben wir auch wieder ein Übersetzungsproblem, weil Naturgesetze hat im Deutschen zwei Bedeutungen, die sich im Englischen unterscheiden lassen, nämlich einmal Natural Laws und Laws of Nature.
Nils:
[41:29] Also Natural Laws sind sowas wie natürliche Gesetze, also das kennt man aus der deutschen Philosophie, kennt man das durchaus auch, diese Idee. Also das sind so Dinge, die halt gelten. Das ist das Natürliche, das ist das Normale, das ist das, was den Mensch zu Menschen macht. So, alles andere ist wieder die Natur so, diese Art von Argumentation da in dieser Logik ist die Natur der ultimative Ausdruck von Vernunft, weil ja so sind wir Menschen halt so, das ist ein Naturgesetz dass wir Menschen so sind.
Nils:
[42:09] Und dann haben wir noch einen anderen Blick auf Natur, das ist jetzt nicht der andere Blick auf Gesetz, sondern auf Natur, wo Natur der ultimative Ausdruck von Instinkt ist. So, das ist irrational, das ist unvernünftig, das sind doch nur Emotionen, das sind Triebe, die müssen eingehegt werden und so weiter und so fort. Da ist Natur irgendwie alles andere als vernünftig. So, und das Problem ist gewesen, jetzt hat man diese beiden Blicke auf Natur, so Natur ist irgendwie das, wie wir halt sind, wir sind halt auch irgendwie Teil der Natur und so. Und gleichzeitig ist Natur irgendwie rational. Und das ist so ein bisschen Weg gewesen, das zu überbrücken, das war eben auch einer der Wege, eine Funktion, die Religion übernommen hat. Eben genau das so ein bisschen zu kriegen, weil beides unterliegt Gott. Es gibt also irgendwas, was drüber geordnet ist und dann sind diese Widersprüche zwischen diesen beiden Perspektiven sind zwar irgendwie da, aber sie sind nicht so kritisch, weil im Endeffekt entscheidet eh Gott. So was auch immer das heißt. Das ist jetzt auch ein schöner Punkt, der bei Blom in seinem die Unterwerfungsbuch auch gut auftaucht, so diese Widersprüchlichkeit. Und ein weiterer Weg dahin zu gehen, ist dann eben zu sagen, wir haben jetzt nicht mehr diese natürlichen Gesetze, sondern wir haben die Naturgesetze, also Laws of Nature im Englischen. Das heißt, das sind Gesetze, das sind Regeln, denen die Natur unterliegt.
Nils:
[43:33] Die auch, die aus der Natur kommen sozusagen, aber denen sie auch selber unterliegt, wo sie jetzt nicht sich irgendwie von abweichen kann, die irgendwie da drüber geordnet sind, So als grundlegendes Ordnungsprinzip. So, habe ich dich soweit mitgenommen?
Amanda:
[43:52] Ja, ich bin noch da.
Nils:
[43:54] Bist du leise geworden?
Amanda:
[43:56] Ja, nee, also ich muss das noch ein bisschen zusammenbringen, was die Unterscheidung, die sie da macht. Aber ja, erzähl mal weiter.
Nils:
[44:05] Also diese Unterscheidung zwischen Naturgesetz und Naturgesetz, das ist im Grunde der Gedanke, einmal dieses, so ist es halt natürlich, also so ein bisschen dieses Moralische. Oder die Menschen sind doch Fleischfresser. Oder der Mensch ist von Natur aus, setze das Adjektiv deiner Wahl ein. Das sind diese Naturgesetze, die irgendwie was rechtfertigen. So was Moralisches. Und dann haben wir eben das, was wir Naturgesetze nennen. Wie hier E gleich mal C-Quadrat im Klischee. Was ja doch eine andere Art von Gesetz irgendwie ist. Das ist etwas Gesetztes. Was aber eben nicht irgendwie wir Menschen gesetzt haben. Sondern wo wir glauben, wir hätten es entdeckt und nicht erfunden. Oder warum man es jetzt…
Amanda:
[44:44] Und sie macht das einfach deskriptiv, also um dann ein Argument daraus zu entwickeln. Beschreibt sie diese Unterscheidung?
Nils:
[44:53] Weil sie eben zur Universalität von Regeln will. Also das ist eine gute Frage, danke. Sie macht das, weil sie eben von dieser eingebetteten Praxis hin will zur Idee von universellen Regeln. Von Regeln, die irgendwie immer gelten. Die irgendwie so eine universelle Geltung haben. Weil da ist das Naturgesetz eben der Prototyp für. Weil wir da ja eben auch schon gelernt haben, dass selbst die so ihre Grenzen haben. Wenn man so an Newton’sche Mechanik oder sowas denkt, die dann im ganz Kleinen und ganz Großen auch wieder in ihre Grenzen stößt.
Nils:
[45:23] Genau, das ist ein bisschen die Idee und dann sind wir auch im Grunde schon am letzten Punkt. Das ist auch, glaube ich, was, was sie, ich weiß gar nicht, ob sie das so explizit macht in dem Buch. Also das war ein interessantes Buch, weil sie macht sehr viel historische Analyse, sehr viel auch historische Details und legt irgendwie so einen analytischen Werkzeugkasten, macht sie auf und stellt ihn vor, aber wendet ihn dann eigentlich nicht mehr an. Das fand ich spannend. Das war in dem Buch von Pasquinelli, das ich nächstes Mal vorstellen werde. Relativ ähnlich, weil dieser Schluss, den ich jetzt ziehe, ich weiß gar nicht, ob sie den so explizit zieht, aber ihre Grundthese ist schon, dass die Regeln, die wir haben, eben immer dünner werden, in ihrem Sinne, dass sie immer deterministischer werden und dass sie das Ermessen im Grunde immer mehr rausnehmen. Also, dass es eben nicht mehr darum geht, dass eine konkrete Person mit Wissen über die konkrete Situation von dem Hintergrund von komplexen Orientierungen und Geschichten und Analogien eine Entscheidung trifft, sondern dass es halt die eine Regel gibt, die angewendet werden muss, egal, was die Umstände eigentlich sagen. Das heißt, und zwar nicht nur im Sinne, dass Personen das nicht mehr dürfen, sondern dass es diese Beispiele, diese Erläuterungen und so weiter auch teilweise gar nicht mehr gibt.
Nils:
[46:40] Ich weiß nicht, ich hatte in meinem Studium, es ist jetzt leider auch schon erschreckend lange her, aber mal irgendwie so auch verschiedene Arten, wie Gesetze ausgelegt werden könnten. Einmal gibt es irgendwie so die Interpretation nach dem Wortlaut, also dem, was da steht. Dann gibt es aber auch die Interpretation nach dem, wie der Gesetzgeber es gemeint haben könnte.
Nils:
[46:59] Und es gab noch ein drittes, was mir jetzt gerade entfallen ist. Also das ist so ein bisschen der Versuch, das dann wieder reinzubringen, aber eigentlich ist da diese Regel, dieses Gesetz, das sagt, ja, wenn du mehr verdienst als x, dann musst du. Egal, ob das jetzt in der Situation angemessen ist oder nicht. Oder ob das auch dem Ziel, das das Gesetz mal hatte, noch angemessen ist oder nicht. Es gibt halt diese Regel und die steht da. Und es fehlt im Grunde diese Reichhaltigkeit, diese Fülle an an Erläuterungen, an Beispielen und so weiter, um das anzuwenden. Und was jetzt auch noch dazu kommt, das sagt Destin, aber glaube ich nicht selber, das ist jetzt eher meine Interpretation, dass wir immer mehr auch dahin kommen, dass auch die grundlegende praktische Kompetenz derjenigen, die es anwenden, fehlt. Also dass auch bei immer mehr Quereinstiegen in verschiedene Bereiche oder so, auch diese grundlegende praktische Erfahrung, die einem dann vielleicht doch mal noch ermöglicht, so ein bisschen zu drehen oder eine von der Regel abweichende Entscheidung zu treffen, dass die eben auch immer mehr fehlt. Und deswegen wir da auch Schwierigkeiten haben, weil es eben nicht mehr wirklich eine Brücke gibt zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten. Es gibt das Abstrakte und das beherrscht im Grunde alles.
Amanda:
[48:11] Und sagt sie, weshalb sie das Gefühl hat, dass das zu dieser Entwicklung gekommen ist? Weil für mich klingt das ein bisschen jetzt auch, insbesondere mit dem Hinblick auf KI, eigentlich, dass das Gegenteil passiert. Also, dass dieser Determinismus aufgeweicht wird und eigentlich einer Blackbox Platz macht, wo wir eben gar nicht mehr genau wissen, wie es am Schluss zu diesem Output kommt. Und klar, wenn man einfach den Output nimmt, dann hat man diese dünne Regel. Man hat irgendeine Aussage oder eben was befolgt wird, ohne den Kontext oder ohne zu wissen, was steckt dahinter. Aber für mich ist das ein bisschen ein Widerspruch. Oder nicht ein Widerspruch, aber ich verstehe nicht ganz, oder ich kann nicht nachvollziehen, wie sie das Gefühl hat, warum das dazu gekommen ist.
Nils:
[48:54] Einerseits, ich meine, sie ist Ideenhistorikerin, insofern geht sie natürlich primär davon aus, dass Ideen auf Ideen aufsetzen, sozusagen. Das wird sehr viel mit dieser Idee der Naturwissenschaft, Naturwissenschaftlichkeit, der universellen Gesetze und der Regeln, die immer gelten und so weiter zu tun haben. Pasquinelli macht was ähnliches, bei dem ist es halt Kapitalismus. Ähm, sie redet irgendwo davon auch, dass diese Berechenbarkeit, die eben Regulierung bietet, dass die süchtig macht. Diese Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit, die macht süchtig sozusagen, weil das auf einmal, oh, jetzt kann ich das vorhersehen, jetzt kann ich das berechnen. Das ist natürlich auch ganz praktisch. Das Thema KI, das ist glaube ich hier noch nicht tief drin, das Buch ist 23 erschienen, also es wird irgendwie 2021, 2021 oder was geschrieben sein, vielleicht auch noch 2022, das wird sie noch nicht tief mitgemacht haben. Ich bin aber tatsächlich da auch eher an dem Punkt, so dieses, der Output ist am Ende eine dünne Regel, die ich im Grunde gar nicht mehr verstehe. Also das ist für mich jetzt eher so der Anknüpfungspunkt, wo auch dieser Punkt, es fehlt die praktische Kompetenz, dann irgendwann einzuschätzen. Was ist denn jetzt dieser Output von diesem KI-System? Taugt der jetzt eigentlich was oder nicht? Dafür muss ich ja erst mal gelernt haben, zu entscheiden, was taugt denn jetzt was oder nicht in dem entsprechenden Kontext, in dem ich bin. Also ist der Werbetext, den er produziert hat, jetzt gut oder schlecht? Dafür muss ich selber wissen, wie gute Werbetexte aussehen.
Nils:
[50:20] Also da sehe ich jetzt die Schnittschmelze. Bei der Erstellung, da hast du recht, das ist so ein bisschen blackboxig. Aber das ist ja das Entstehen der anderen dünnen Regeln im Grunde auch. Also ich persönlich weiß jetzt nicht, wie irgendwie die Regel entstanden ist, du musst beim Auto die Kupplung drücken, damit du Gas geben kannst. Ich habe natürlich eine grobe Ahnung von der Mechanik dahinter. aber, Irgendwie ist nehme ich halt so hin, das mache ich halt so.
Amanda:
[50:47] Ja, aber findest du nicht, es gibt ja auch diese Regeln, also keine Ahnung, nimm mal den irgendwie kategorischen Imperativ, wo ja, ich sage mal, das Qualitätsmerkmal davon ist, dass so ein komplexes Gebilde dahinter steckt und das runtergebrochen wurde auf eine ganz, ganz dünne Regel eigentlich. Genau. Es gibt wie beides, also das Dünn ohne Hintergrund und Dünn mit viel Hinterbau.
Nils:
[51:12] Ja, aber die Frage ist, was ist das für ein Hinterbau? Ist das ein Hinterbau, der sozusagen rechtfertigt? Oder ist das ein Hinterbau, der mir beim Agieren mit dieser Regel hilft?
Amanda:
[51:24] Okay, ja.
Nils:
[51:24] Und also ich würde jetzt aber auch sagen, sowas ist, das gehört noch eher in die Kategorie der dicken Regeln.
Amanda:
[51:30] Ja, okay.
Nils:
[51:30] Weil es eben eingebettet ist in ganz langen Ideen, historischen Diskurs und so weiter. Das ist natürlich bei sowas mathematischem einfacher, wo du sagen kannst, okay, wenn ich diese Berechnung von Druck anwende, dann erfahre ich, ob die Wand hält oder nicht.
Amanda:
[51:44] Punkt.
Nils:
[51:46] Und das ist aber dann eben auch relativ berechenbar und absehbar. Und ich glaube, das ist so ein bisschen der Punkt, wo sie dann auch hin will, dass wir diese dünnen Regeln im Grunde nur haben, dass die nur funktionieren in einer sehr stabilen Welt. In einer Welt, die konstant ist, die berechenbar ist, jetzt sind wir genau bei diesen beiden Welten ganz am Anfang, und dann funktionieren die dünnen Regeln. Also wenn ich die Regulierung habe, dass 50 Gurken in jeder Standardkiste sind, dann reicht es, wenn ich die Standardkisten zähle. Und dann reicht es vielleicht sogar, wenn ich irgendwie das Gewicht der Standardkisten beim Beladen, bevor die Gurken drin waren, hernehme und daraus kann ich berechnen, wie viele Gurken habe ich. Weil ich weiß, die Kisten haben beim Beladen, waren das drei Kilo Kisten, ich weiß, jede Kiste wiegt 300 Gramm, okay, das sind also zehn Kisten, jeder Kiste sind 50 Gurken, ich habe also 500 Gurken. So, das spart mir im Endeffekt das Zählen, wie viele Gurken habe ich hier eigentlich. Aber damit das funktioniert, muss das eben so standardisiert sein. Die Kisten müssen immer das gleiche wiegen, die müssen immer mit 50 Gurken befüllt werden.
Nils:
[52:50] Und wir haben Leben in einer Welt, und da bin ich jetzt wieder auch relativ stark bei ihr, die sehr stark auf diese dünnen Regeln angewiesen ist, damit sie noch funktionieren kann. Die aber gleichzeitig einen gewaltigen Aufwand betreibt, um die Welt so stabil und berechenbar zu halten, damit diese dünnen Regeln noch funktionieren. Also dann muss auf einmal eine Behörde eingerichtet werden, die kontrolliert, ob auch wirklich immer 50 Gurken in jeder Standardkiste sind. Das selber ist wieder eine leichte Arbeit, die ist jetzt nicht intellektuell aufwendig oder so, aber sie muss halt gemacht werden. Das ist interessant. Bisschen dieser Spannungsverhältnis, also wir haben im Grunde die Komplexität, das macht sie jetzt wieder, glaube ich, gar nicht so explizit, wir haben im Grunde die Komplexität, wir haben jetzt zwei so dünnen, einfachen Regeln, nach denen wir eine ganze Menge machen können. Dafür haben wir ein ziemliches Konstrukt gebaut, damit die Welt so stabil ist, dass die noch halten. Und das ist halt auch so, könnte man als Argument herziehen, warum wir uns mit so einem gesellschaftlichen, globalen Wandel so schwer tun, weil wir dann eben irgendwie immer mehr wieder lernen müssen, mit diesen dicken Regeln zu arbeiten, mit dieser nicht so berechenbaren, nicht so standardisierten Welt irgendwie zurecht zu kommen und das alles deutlich aufwendiger und, komplexer wieder wird, auch für den Einzelnen. So. Das war eigentlich der Ritt durch das Buch.
Amanda:
[54:19] Cool, vielen Dank. Soll ich mich gleich anschließen mit meinen weiterführenden Tipps? Ich fand es sehr spannend. Ich habe den Podcast gehört von Lorraine Dustin in der Sternstunde Philosophie. Das war auch irgendwie Umsbuch. Aber ich finde, sie hat da gar nicht wirklich Bezug genommen auf die Themen, wie du sie jetzt vorgestellt hast. Deswegen finde ich das ganz gut, aber natürlich trotzdem interessant, das Interview mit ihr zu hören. Also das wäre meine erste Empfehlung.
Amanda:
[54:56] Bezüglich Folgen von unserem Podcast ist mir Folge 59 in den Sinn gekommen. Da habe ich ein Buch von Roberto Simanowski vorgestellt, Todesalgorithmus. Da geht es eben auch um Algorithmen und was halt die Befolgung oder Nichtbefolgung auch für ethische Konsequenzen hat. Hat natürlich im weitesten Sinne auch mit Regeln zu tun. Dann ein Buch, was ich von Dustin gelesen habe, ist Against Nature. Das hat natürlich auch einige Schnittstellen mit dem, was du jetzt vorgestellt hast. Wie kann Natur interpretiert werden? Was für Konnotationen, Denotationen gibt es? Ich fand das sehr interessant. Ich finde das Thema generell sehr spannend. Kann ich auch sehr empfehlen. Und dann noch zwei Dinge, die mir in den Sinn gekommen sind. Das ist einerseits ein Artikel, Von, ich glaube, das war eben Nömer-Mag, kann das sein? Oder New York Times? Nein, ich glaube, spricht man Nömer oder Noema?
Nils:
[55:56] Noema, ich würde es mal Noema nennen, aber ich weiß es auch nicht, ehrlich gesagt.
Amanda:
[55:59] Auf jeden Fall ein Artikel, der heißt The Tyranny of Time oder so. Und da ging es eben auch darum, wie Zeit und diese gemessene Zeit eigentlich dazu führt, wie unsere Welt strukturiert wird. Und wie dann auch Personen benachteiligt werden, Dadurch, dass diese Zeit erfunden worden ist.
Amanda:
[56:20] Und interessant fand ich auch, dass der Autor da gesagt hat, dass die Erfindung eigentlich auch mit den Mönchen oder das ist aufgekommen in den Klostern, weil diese Ritualisierung des Alltags im Kloster auch dann die Zeit ja strukturiert hat in einem Sinne und dass darauf dann eben auch der Kapitalismus basiert und so weiter. Also es hat wie auch viele Anknüpfungspunkte mit dem, was du jetzt erzählt hast. Und das ist in einem Artikel beschrieben. Und das letzte Buch, das ist Materialfluss, heißt das. Da geht es um die Geschichte von Logistik und aber aus der Perspektive des Stillstands. Also der Untertitel ist eine Geschichte der Logistik an den Orten ihres Stillstandes. Und das ist von Monika Doman geschrieben und ich fand das auch, es ist so ein Buch, was ich einfach gesehen habe und dann reingeguckt, komplett aus der Luft, also ich habe da nicht irgendwie eine Ahnung von, aber es ist mir jetzt in den Sinn gekommen, als du das mit den Gurken so erwähnt hast. Also das ist natürlich auch sehr interessant, wie das überhaupt zustande gekommen ist. Also wie dann Logistik möglich gemacht worden ist durch Regeln eben und durch Standardisierung und so weiter. Also das ist auch ganz, ganz nett.
Nils:
[57:33] Und da gab es auch noch irgendein Buch, glaube ich, zur Geschichte des Shipping-Containers, des Standard-Containers.
Amanda:
[57:38] Ja, genau.
Nils:
[57:38] Das auch in diese Richtung geht.
Amanda:
[57:40] Ja, da habe ich auch einen guten Artikel zu. Ich glaube, den habe ich schon mal irgendwo erwähnt. Kann ich sonst auch noch verlinken.
Nils:
[57:45] Gerne. Cool, danke dir. Ha, du hast sogar eine Episode noch dran, die ich mir nicht vorher ausgesucht hatte, sehr gut. Ich habe tatsächlich primär alte Episoden von uns jetzt erstmal mitgebracht. Erstmal, weil ich einfach die Bezug schon mehrfach gemacht habe, auf jeden Fall die Unterwerfung von Philipp Blom, meine letzte Episode, das war Nummer 81. Einfach weil da diese Idee erstmal dieser Widersprüchlichkeiten die irgendwie durch Religion vor allen Dingen überdeckt werden aber vor allen Dingen auch, weil ja dieses Kontrollieren der Welt dieses Berechenbarmachen der Welt das setzt ja im Grunde deren Unterwerfung voraus und das macht Philipp Blom eigentlich sehr schön in seinem Buch deutlich und weil es wirklich irgendwie als Trilogie wunderbar funktioniert und gar nicht von mir so geplant war dann eben auch noch The Eye of the Master von Matteo Pasquinelli, das ist glaube ich gerade auch auf Deutsch erschienen. Das Auge des Herren heißt es, glaube ich, tatsächlich da. Das wird vermutlich unsere Episode 91 werden, aber die gibt es halt noch nicht. An Episoden, die es schon gibt, haben wir natürlich dann auch auf jeden Fall die Episode zur Objektivität von Lorraine Destin und Peter Gellison. Auch ein anderes Buch von der Autorin. Ich finde sowieso, also Lorraine Destin ist gerade so eine unserer klarsten Denkerinnen zum Verhältnis Wissenschaft, Gesellschaft.
Nils:
[59:03] Was passiert da eigentlich? was ist da eigentlich passiert in den letzten Jahrzehnten. Auf jeden Fall immer empfehlenswert zu lesen und zu hören, wenn sie euch über den Weg läuft. Dann habe ich noch von Ian Stewart und Jack Cohen unsere Episode 49, Collapse of Chaos. Einfach, weil es eben da auch dieses Konstanthalten sozusagen der Welt und der Versuch, Chaos irgendwie zu kontrollieren und zu steuern im Grunde geht.
Nils:
[59:32] Dann habe ich noch unsere Episode 20 von Thomas Bauer, die Vereindeutigung der Welt. Da kommt genau dieser Gedanke her, den ich vorhin formuliert habe mit Religionen, die sozusagen diese Elemente der dicken Regelsysteme jetzt heutzutage oft als dünne Regeln missverstehen und dadurch irgendwie in so einen etwas schrägen Blick auf die Welt im Grunde verfallen. Und dann noch ein Buch, was wir noch nicht vorgestellt haben, was ich jetzt aber eigentlich auch mal endlich lesen sollte. Das ist von Stefan Kühl, ein Organisationssoziologe, gebrauchbare Illegalität. Das habe ich, glaube ich, auch schon ein oder zwei Mal hier empfohlen. Da geht es im Grunde darum, dass Organisationen, also meistens Unternehmen, aber im Grunde auch Behörden oder irgendwelche NGOs oder so, dass die immer auch, dass die sich nie darauf setzen sollten, dass immer alle Leute alle Regeln einhalten. Das Ganze im Grunde nur funktionieren kann, wenn auch mal Leute sich gezielt und an den richtigen Stellen nicht an Regeln halten. Deswegen brauchbare Illegalität, das ist, glaube ich, sehr, sehr anschlussfähig eben an diesen Gedanken der dünnen Regeln, die nicht mehr in der Lage sind, die Welt irgendwie so zu erfassen, wie die Komplexität es eigentlich erfordern würde.
Nils:
[1:00:49] Genau, ihr könnt auch ein paar meiner Gedanken zu dem Buch, könnt ihr auch nachlesen auf meiner anderen Webseite, auf weltenkreuzer.de, da habe ich auch ein paar sechs oder sieben Lesenotizen zu dem Buch schon platziert, die stelle ich euch auch mal in den Chat, den Link zumindest zur Übersicht, könnt ihr da auch einmal reingucken. Genau, jetzt überlege ich gerade noch, ob mir noch irgendwas spontan einfällt, aber gerade erst mal nicht.
Amanda:
[1:01:18] Sehr schön. Sollte ich den Abschluss machen,
Nils:
[1:01:20] Nils? Sehr gerne.
Amanda:
[1:01:26] Ich bedanke mich fürs Zuhören. Man findet uns im Internet unter zwischenzweidecken.de. Das ist unsere Hauptwebseite. Wir sind auch auf den sozialen Medien zu finden unter addeckeln, also das letzte Wort mit dem Ad auf x auf Twitter. Und wir sind auch auf mastodon unter social, Moment.
Nils:
[1:01:52] Atzzzd.podcasts.social.
Amanda:
[1:01:54] Genau, vielen Dank. falls ihr uns hört auf allen wir sind auf allen gängigen Podcasts Plattformen auch zu hören und freuen uns auch natürlich über Bewertungen oder Sternchen, je nachdem wo ihr uns runterlädt oder hört und ja, bedanken wir uns fürs Zuhören und ich bedanke mich fürs Vorstellen, Nils Wir hören uns in den nächsten Folgen Macht
Nils:
[1:02:17] Es gut, tschüss.
Music:
[1:02:18] Music
Der Beitrag 086 – „Regeln“ von Lorraine Daston erschien zuerst auf Zwischen zwei Deckeln.
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