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Jonas Lüscher: Verzauberte Vorbestimmung
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Der Schweizer Lüscher bringt unterschiedliche Lebensgeschichten und Schicksalserfahrungen zusammen, die verbunden sind durch das unsichtbare Band zwischen Mensch, Technik und Kapitalismus. Lüscher greift auf eine sehr persönliche Erfahrung zurück.
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971 епізодів
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×Auf den ersten Blick ist die Großmutter der Ich-Erzählerin eine ganz gewöhnliche ältere Frau mit den üblichen Schrullen: Sie kauft immer nur dieselben Lebensmittel ein, hat einen übertriebenen Hang zur Ordnung; den Satz „Ich bin akkurat“ murmelt sie gewohnheitsmäßig auf Russisch vor sich hin. Ihre Handschrift ist penibel; die Zeilen in ihren Briefen halten stets den gleichen Abstand. Erst nach dem Tod der Großmutter entdeckt ihre Enkelin das linierte weiße Blatt, das der Großmutter beim Verfassen ihrer Briefe als Unterlage gedient hat. Es ist ein gutes Bild dafür, wie geschickt Ricarda Messner in ihrem Debüt mit Erwartungen und scheinbaren Gewissheiten spielt, um sie dann zu unterlaufen. „Wo der Name wohnt“ ist eine Lektüre, die Aufmerksamkeit erfordert. Messner springt in den Zeitebenen vor und zurück. Zu Beginn des Romans ist die Großmutter bereits seit Jahren tot, und die Ich-Erzählerin erinnert sich daran, wie sie Jahre zuvor ihre erste eigene Wohnung in der unmittelbaren Nachbarschaft der Großmutter bezogen hatte. Einige Freundinnen und Freunde fragten mich damals, ob ich denn wirklich so nah bei Großmutter leben wolle. Vielleicht wäre es doch besser, wenn die erste Wohnung mit der Familie bricht, und ob ich denn keine eigene Zukunft wolle, kein eigenes Leben. Bis heute nehme ich es ihnen nicht übel, verstehe allerdings immer noch nicht, wie das gehen soll und was das sein soll, das eigene Leben. Quelle: Ricarda Messner – Wo der Name wohnt Rekonstruktion mit Lücken Die Frage, inwieweit es möglich ist, ein von Geschichte und familiären Prägungen unabhängiges Leben zu führen, ist das Grundthema des Romans. Vorsichtig tastet Ricarda Messners Ich-Erzählerin sich in die Historie ihrer Familie hinein. Und weil so etwas eben nicht chronologisch geordnet wie das Drehbuch einer Vorabendserie funktioniert, bleiben in der Rekonstruktion immer wieder Lücken. Wer Messners Roman vorwirft, dass die Autorin der Vagheit ihrer Hauptfigur nicht entschlossen genug entgegensteuere, hat das Erzählprinzip nicht verstanden. Fest steht: Die Eltern der 1989 geborenen Erzählerin sind im April 1971 aus Riga, der Hauptstadt Lettlands, in die Bundesrepublik eingereist. Fest steht auch, dass die Erzählerin einen Schriftwechsel mit den deutschen Behörden führt, um den lettischen Namen ihrer Mutter, Lewitanus, annehmen zu dürfen. Die nüchternen Antworten der Behörde sind den einzelnen Kapiteln jeweils als Auftakt vorangestellt: Der bloße ‚Herzenswunsch‘, einen anderen Familiennamen führen zu wollen, stellt grundsätzlich keinen wichtigen Grund für eine Namensänderung dar. Quelle: Ricarda Messner – Wo der Name wohnt Sekundäre Zeugenschaft Aus Erinnerungsschnipseln, Erzählungen der Eltern und zufälligen Fundstücken erwirbt sich die Erzählerin das, was man mit dem Begriff „sekundäre Zeugenschaft“ bezeichnet – ein Wissen über die eigene Herkunftsgeschichte, das sich nicht aus eigenem Erleben, sondern nur aus indirekter Vermittlung speist: Ich war fünfzehn Jahre alt, und in den nächsten Jahren ging ich immer wieder zum Wohnzimmerschrank, um diese Dokumente zu lesen, meistens dann, wenn ich allein war und meine Mutter nicht bei jedem Geräusch fragte, was suchst du da, weil sie dachte, ich würde ihre Kleider zerschneiden. Quelle: Ricarda Messner – Wo der Name wohnt Das dunkle Zentrum dieses Romans, so viel soll verraten werden, das sind die blutigen Tage im Rigaer Ghetto im Jahr 1941; die Kollaboration der lettischen Nationalisten mit den deutschen Nationalsozialisten, die Ermordung zehntausender jüdischer Bürger in lettischen Konzentrationslagern oder Gefängnissen. Eine Verflechtung historischer Ungeheuerlichkeiten, die Spuren hinterlassen, sich eingegraben hat in die Familiengeschichte bis in die Gegenwart hinein. Ricarda Messner hat in ihrem Debüt eine schlüssige Form dafür gefunden, wie man davon erzählen kann. Der oft verwendete Begriff „transgenerationales Trauma“ wird in diesem schmalen, aber bemerkenswerten Roman anschaulich gemacht – mit literarischen Mitteln, dafür aber umso eindrücklicher.…
„Pop-up-Propaganda“ hat Irina Rastorgueva ihr neues Buch genannt, weil die heutige Putinsche Wirklichkeitsvernebelung im Grunde ganz ähnlich funktioniert wie in der Zarenzeit, wo einst für Katharina die Große Potemkinsche Dörfer errichtet wurden. Da, wo sich der Autokrat Putin blicken lässt, werden nämlich auf einmal Straßen ausgebessert und Hausfassaden gestrichen. Doch leider besucht der heutige Kremlherrscher, wenn überhaupt, nur noch regionale Zentren. Die Peripherie – und die ist im riesigen Russland fast überall – darf sehen, wo sie bleibt. Dort werden Krankenhäuser und Schulen geschlossen und im Winter die Straßen nicht mehr geräumt. Absurdes Theater für die russische Öffentlichkeit Noch erschütternder als der Verfall der Infrastruktur ist das „absurde Theater“ der russischen Öffentlichkeit, wie Rastorgueva es nennt, das inzwischen zum totalen geistigen und moralischen Verfall des Landes geführt hat, gipfelnd in einem imperialistischen Krieg, mit dem die russische Sargindustrie kaum mehr Schritt halten kann. Die Produktion von Propaganda läuft dagegen auf Hochtouren, wie Rastorgueva an Dutzenden von Beispielen zeigt. So auch an einem Bericht von Russia Today über die angebliche Flucht eines ukrainischen Rabbiners vor den vermeintlich antisemitischen Kiewer Behörden. Es wurden Aufnahmen der Synagoge mit den Worten „Tod den Jidden“ und einem Hakenkreuz gezeigt. Außerdem wurden Ausschnitte aus einem Interview mit Rabbi Mikhail Kapustin serviert. In dem Video packt er seine Sachen und sagt: „Ich will nicht weggehen. Aber ich möchte, dass sich meine Kinder sicher fühlen. Deshalb gehe ich.“ Tatsächlich handelt es sich aber nicht um eine Synagoge in Kiew, sondern um eine Synagoge in Simferopol, an der die Schmierereien erschienen, nachdem das russische Militär die Krim besetzt hatte, von wo Kapustin in die Ukraine geflohen war. Quelle: Irina Rastorgueva – Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung Russische Medien als Sprachrohre des Putinismus Um solche Fälschungen, die zum üblichen Instrumentarium der Kremltreuen gehören, entlarven zu können, hat Rastorgueva drei Jahre lang die russischen Medien durchforstet, von staatlichen Sendern bis zu Telegram, von unabhängigen Nachrichtenkanälen bis zur Sonntagabend-Talkshow des Hetzers Wladimir Solowjow im Staatsfernsehen. Am Rande erfährt man dabei auch, dass Gestalten wie Solowjow oder sein Journalistenkollege Dmitrij Kisseljow in den 1990er-Jahren und teils darüber hinaus noch liberale Ansichten vertraten. Heute sind sie Sprachrohre des Putinismus. Neben dem Hass auf die Ukraine und insbesondere Wolodymyr Selenski steht der Hass auf das angeblich sittenlose „Gayropa“ im Vordergrund. Aktuell ist auch der Ausdruck „Liberast“ im Schwange, eine Zusammenziehung aus „liberal“ und „Päderast“. Angebliche westliche Vernichtungspläne „Dem Westen“ wird auch unterstellt, Vernichtungspläne gegen Russland zu schmieden. Zur Verbreitung solcher Lügen gibt sich etwa Michail Kowaltschuk, Leiter des Kurtschatow-Instituts, Russlands führender Kernforschungsanstalt, her. Seinen Informationen zufolge erarbeiten amerikanische Ethnogenetiker Waffen, die für eine ethnische Gruppe ungefährlich und für eine andere tödlich sind. Die heutigen russischen Behörden beschuldigen die Vereinigten Staaten seit 2009 permanent, biologische Waffen auf dem Territorium der Ukraine, Georgiens, Kasachstans und Armeniens zu entwickeln. Und das ohne jeden Beweis. Quelle: Irina Rastorgueva – Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung In einem Vierteljahrhundert Putin hat die Kremlpropaganda die Dimensionen einer eigenen Wirklichkeit angenommen, stellt Rastorgueva nüchtern fest. Wo immer man ihr Buch aufklappt, springt einem die russische Paranoia entgegen. Es bietet dem Leser eine wohl einzigartige Binnenperspektive auf das heutige Russland.…
Vier Frauen, vier Lebenswege, vier Sehnsüchte: In „Dream Count“, dem neuen Roman von Chimamanda Ngozi Adichie, dreht sich alles um den Wunsch nach Liebe, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung. Drei der Frauen sind in Afrika aufgewachsen und leben inzwischen in den USA, eine ist in Nigeria geblieben. Unterschiedlich in Herkunft, Status und Lebenssituation, eint sie doch die Suche nach Erfüllung – schon der erste Satz des Romans steckt das zentrale Thema ab: Ich habe mich immer danach gesehnt, von einem anderen Menschen erkannt zu werden, wirklich erkannt. Quelle: Chimamanda Ngozi Adichie – Dream Count Wunsch nach Liebe, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung Das sagt Chiamaka, genannt Chia, die erste der vier Protagonistinnen. Chia stammt aus einer wohlhabenden nigerianischen Familie und lebt als Reiseschriftstellerin in den USA – jedoch bislang ohne größeren Erfolg. Die Pandemie zwingt sie zur Untätigkeit, und in dieser Zeit beginnt sie, über vergangene Beziehungen zu sinnieren. Sie sucht im Netz nach ihrem Ex-Partnern: Darnell, schön, aber gefühlskalt; ein verheirateter Engländer, dessen Geliebte sie lange war, und Chuka, der perfekte Mann – den Chia trotzdem nicht lieben konnte. Von Chia aus verzweigt sich die Geschichte zu den anderen Frauen. Zikora, ihre beste Freundin, hat in Washington Karriere als Anwältin gemacht. Jahrelang hat sie sich ein Kind gewünscht – jetzt ist sie schwanger, doch der vermeintliche Traummann verlässt sie, als er von der Schwangerschaft erfährt. Er konnte das, einfach ungeschoren davonkommen, sich entscheiden, nichts zu tun, aber sie würde diese Option nie haben, denn es war ihr Körper, und ein Baby musste entweder zur Welt gebracht werden oder nicht. Quelle: Chimamanda Ngozi Adichie – Dream Count Schwere Schicksale und Einblicke in afrikanische Lebenswelten Kadiatou, Chias Haushälterin, stammt aus Guinea, lebt als Geflüchtete in den USA und träumt von einem ruhigen, sicheren Leben. Doch dieser Traum zerbricht brutal, als sie Opfer eines sexuellen Übergriffs wird – ein Fall, der an den Skandal um Dominique Strauss-Kahn erinnert, aber gleichzeitig ein universelles Schicksal von Frauen weltweit repräsentiert. Die vierte Hauptfigur ist Omelogor, Chias Cousine, erfolgreiche Bankerin in Abuja in Nigeria, unverheiratet und kinderlos aus Überzeugung – bis plötzlich der Wunsch nach Mutterschaft in ihr aufkeimt. Adichie verwebt die Geschichten dieser Frauen mit scheinbarer Leichtigkeit, ohne die Schwere der Themen zu verharmlosen. Adichie scheut nicht vor Reibung zurück Fehlgeburten, Abtreibungen, häusliche Gewalt, Genitalverstümmelung – all das findet Raum in diesem Roman, ohne dass er sich in Anklagen verliert. Ganz nebenbei vermittelt sie Einblicke in afrikanische Lebenswelten – ohne lange Erklärungen, aber mit selbstverständlicher Präzision. Wer nicht weiß, was Fonio ist, wird die in Westafrika beliebte Hirseart vielleicht nachschlagen, und dabei einen weiteren kleinen Baustein in Adichies literarischem Kosmos entdecken. Adichie scheut nicht vor Reibung zurück: Sie legt ihren Figuren auch kontroverse Aussagen in den Mund, die Debatten anstoßen – mal entlarvend, mal provokant. Jemand las einen Roman über den Biafra-Krieg in Nigeria und meinte: „Echt interessant, aber ehrlich gesagt kapier ich noch nicht ganz, wieso die Igbo ermordet wurden“. Ich riet ihnen, sich die Igbo als sowas wie die Juden Nigerias vorzustellen: Man traut ihnen nicht, weil sie angeblich alles kontrollieren wollen, Geld lieben und dauernd Ansprüche anmelden. „O mein Gott“, rief da eine Frau, „das darfst du nicht sagen, niemanden darf man mit Juden vergleichen!“ Ich hatte keine Ahnung, dass es Menschen gibt auf dieser Welt, die so selbstverständlich das Hoheitsrecht über anderer Leute Köpfe beanspruchen. Quelle: Chimamanda Ngozi Adichie – Dream Count „Dream Count“ ist ein kraftvoller Roman über Frauen, die lieben, kämpfen und sich behaupten – nicht perfekt, nicht immer heldenhaft, aber mit einer Beharrlichkeit, die bewegt. Adichie gelingt es komplexe Themen in lebendige Erzählungen zu übersetzen. Ihre Figuren sind keine Symbole, sondern echte Menschen mit Widersprüchen und Schwächen. Gerade das macht diesen Roman so eindrücklich: Er zeigt, wie das Private und das Politische untrennbar verwoben sind – und dass es in der Suche nach Selbstbestimmung nicht nur um große Gesten geht, sondern oft um die kleinen, alltäglichen Entscheidungen, die das Leben prägen. „Dream Count“ist ein Buch, das nachhallt – weil es daran erinnert, dass jede Geschichte zählt.…
Mexiko-City im Jahr 2030: Ein Großbrand im Stadtwald Bosque de Chapultepec verwüstet den Friedhof Panteón Civil de Dolores, wo sowohl Berühmtheiten als auch Namenlose begraben sind. Außerdem zerstört das Feuer den Zoo der mexikanischen Hauptstadt – und alle Tiere, bis auf ein Emu-Küken, sterben. Vor dem Hintergrund dieser imaginierten Katastrophe erzählt Jorge Comensal in seinem Roman „Diese brennende Leere“ zwei Lebensgeschichten, die von Karina und Silverio, die sich irgendwann kreuzen. Schmerzhafte Suche nach der Wahrheit Karina ist eine 25-jährige Physikerin. Sie forscht zu einer neuen Theorie der Schwerkraft und lebt seit frühester Kindheit bei ihrer dem Whisky verfallenen Großmutter Rebeca. Karinas Eltern haben ein Grab auf dem Panteón Civil de Dolores. Als die junge Frau den Verdacht schöpft, dass Vater und Mutter gar nicht gemeinsam bei einem Verkehrsunfall gestorben sind, wie man ihr immer erzählt hat, macht sie sich auf die schmerzhafte Suche nach der Wahrheit. Sie kann nicht glauben, dass Rebeca, die geschwätzigste Frau der Welt, all die Jahre ein Geheimnis vor ihr bewahrt hätte. Was kann ihre Mutter verbrochen haben, dass ihre Großmutter sie derart hasst? Dieser Groll würde erklären, warum sie ihr hartnäckig jedes Andenken verweigert. (Mit keinem Wort erwähnt ihre Großmutter die verstorbene Schwiegertochter.) Als hätte sie nie existiert. Quelle: Jorge Comensal – Diese brennende Leere Silverio wiederum ist Friedhofswärter und hat in der Nacht des verheerenden Brandes Dienst. Nachdem er sich mit Mühe und Not vor den Flammen gerettet hat, sitzt er erschöpft im Wachhäuschen – da ruft ihn seine Teenager-Tochter Daenerys an, mit der er eigentlich keinen Kontakt hat. Ich mache mir solche Sorgen um die Giraffen, die Flamingos, die Kalifornischen Kondore, sie stehen auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten Tierarten.“ – „Hör mal, meine Tochter …“ – Silverio waren die vom Aussterben bedrohten Tierarten sowas von egal – „… als ich eben glaubte, mein letztes Stündchen hätte geschlagen, habe ich ganz doll an Dich gedacht. Ich will, dass wir uns häufiger sehen. Ich rede mit deiner Mamá, damit sie da nichts gegen hat, ja? Es ist nicht richtig, dass du so gar nichts von deinem Papá hast.“ Quelle: Jorge Comensal – Diese brennende Leere Neue Vater-Tochter-Beziehung Die neue Vater-Tochter-Beziehung, die sich aus Daenerys‘ Sorge um die Tiere des Zoos entwickelt, ist so ungefähr das einzig Schöne, das in Silverios Leben passiert. Ansonsten kämpft er mit finanziellen Problemen und Süchten, muss Schutzgeld für seinen Bruder zahlen – einen Auftragsmörder hinter Gittern – und sich um seine depressive Mutter kümmern. Von den Sorgen, Nöten und Tragödien der beiden einsamen Großstadt-Bewohner Silverio und Karina erzählt Jorge Comensal in einer frischen, unverblümten und dialogreichen Sprache. Es gibt in seinem Buch auch viel Situationskomik – all das verhindert, dass die Handlung ins allzu Schwere abgleitet. Spannend ist der Roman zudem: Wir wollen wissen, was mit Karinas Eltern wirklich passiert ist. Und dadurch, dass der Roman auf verschiedenen Zeitebenen hin- und herspringt, fordert er sie Lesenden. Extremhitze, Wassermangel, tödliche Flammen Das Interessanteste an dem Roman aber ist das Zukunftsszenario, das Comensal entwirft. Es ist eben keine in weiter Ferne liegende Apokalypse – beklemmend und zugleich völlig abstrakt. Der Autor schaut nur wenige Jahre voraus und hat mit 2030 sicher nicht zufällig das Jahr gewählt, das die Staatengemeinschaft als Zielmarke für nachhaltige Entwicklung gesetzt hat. Der Tod der Zoo-Tiere kann als Allegorie auf das globale Artensterben verstanden werden. Aber er erscheint auch sehr real – angesichts der Brände von Los Angeles mit ihren katastrophalen Folgen. Extremhitze, Wassermangel und tödliche Flammen: Als Jorge Comensal „Diese brennende Leere“ 2022 in Mexiko veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, dass die Wirklichkeit die Zukunftsfiktion bereits drei Jahre später übertreffen würde. Trotzdem oder gerade deshalb ist diese literarische Auseinandersetzung mit den Folgen des Klimawandels originell und lesenswert.…
Wunnicke hat sich zur Spezialistin für präzise gearbeitete Kurzromane entwickelt, in deren Mittelpunkt historische Figuren stehen. Im neuen Roman schreibt sie über Marie Marguerite Bihéron, eine wegweisende Bildnerin von anatomischen Wachspräparaten.
Hjorths Romane kreisen geradezu besessen um eine Familiengeschichte, die ihrer eigenen ähnelt. Ein Streit unter Geschwistern, der über Bücher ausgetragen wird. Im Zentrum: Eine traumatische Missbrauchserfahrung durch den eigenen Vater.
Die Mutter ruft aus der Türkei an und meldet den Tod des Vaters. Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, der in Kiel lebt, leidet an Flugangst und macht sich im Wohnmobil auf den Weg. Die Reise ist eine Reise in die Erinnerung.
Die Vorgeschichte zu „Schneeflocken wie Feuer“: Drei Frauen und ein Baby, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs aus Niederschlesien in Richtung Westen fliehen. Ein Buch über männliche Macht und weiblichen Widerstand.

1 SWR Bestenliste März – Diskussion über Bücher von Elfi Conrad, Feridun Zaimoglu, Christine Wunnicke und Vigdis Hjorth 1:07:27
1:07:27
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Shirin Sojitrawalla, Gerrit Bartels und Christoph Schröder diskutierten im Freiburger Literaturhaus vier auf der SWR Bestenliste im März verzeichneten Werke, die von tabuisierten Familiengeschichten und verdrängter Zeitgeschichte handeln. Diskussion über vier Bücher Zum Auftakt wurde der Roman „Als sei alles leicht“ von Elfi Conrad (Mikrotext Verlag) besprochen, der von drei Frauen und einem Baby erzählt, die Anfang 1945 auf der Flucht vor der Roten Armee in einem Flüchtlingslager im damaligen Reichsprotektorat Böhmen und Mähren gelandet sind. Das auf dem 6. Platz der SWR Bestenliste im März geführte Buch wurde auf dem Podium sehr unterschiedlich bewertet: Einzelszenen, die kollektive und persönliche Erinnerungen abrufen, wurden von Seiten der Jury gelobt, allerdings gab es auch deutliche Kritik an der literarischen Ausgestaltung der verschiedenen Erzählperspektiven. Durchaus kontrovers waren auch die Gespräche über Feridun Zaimoglus Trauerbuch „Sohn ohne Vater“ aus dem Kiepenheuer und Witsch Verlag (Platz 5) und Christine Wunnickes historischen Roman „Wachs“ (Platz 3) , der im Berenberg Verlag erschienen ist. Erinnerung als literarischer Motor Allein Vigdis Hjorths Roman „Wiederholung“ in der deutschen Übersetzung von Gabriele Haefs aus dem S. Fischer Verlag (Platz 2) wurde im gut besuchten Freiburger Literaturhaus einhellig gelobt. Die norwegische Schriftstellerin beschreibt zunächst die atemlose Suche eines pubertierenden Mädchens nach ausgelassenen Partys und sexuellen Erfahrungen. Dabei wird sie von ihrer kontrollsüchtigen Mutter auf Schritt und Tritt überwacht. Das groteske Scheitern eines „ersten Mals“ und die erfundenen Ausschweifungen im Tagebuch des Teenagers lösen eine Familienkrise aus, die zur frühkindlichen Missbrauchsgeschichte der Ich-Erzählerin führt. Aus den vier Büchern lasen Antje Keil und Sebastian Mirow. Durch den Abend führte Carsten Otte.…

1 Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt | Buchkritik 4:09
Der Amerikaner Chris Reiter und der Brite Will Wilkes arbeiten seit Jahren als Wirtschaftskorrespondenten in Deutschland. Reiter hat außerdem väterlicherseits Verwandte hier und ist mit einer Deutschen verheiratet, Wilkes kam bereits mit siebzehn Jahren zum ersten Mal hierher und studierte später Deutsch. Ihr Buch „Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt“, entstand aber, wie der Titel nahelegen könnte, nicht in dem Wunsch, rumzumeckern: Wir möchten Licht auf die sich verdüsternden Zukunftsaussichten und den gefährdeten sozialen Zusammenhalt werfen – nicht aus Schadenfreude, sondern als konstruktiven Beitrag zu einer sich intensivierenden Debatte darüber, welchen Weg die Führungsmacht Europas in Zukunft einschlagen wird. Wir appellieren an die deutschen Bürger, zu der gemeinsamen Unerschrockenheit zurückzufinden, mit der ein Weg aus den Zerstörungen der Nazizeit gebahnt werden konnte. Quelle: Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt Was hält Deutschland nach den Jahren des Wachstums noch zusammen? Bereits nach Kriegsende bildete sich heraus, was nach Ansicht der beiden Journalisten Hauptursache für die Misere ist: Nur wachsender Wohlstand hielt das Land zusammen. Nun aber sei es vorbei mit dem Wachstum. Der Sozialhaushalt, der Preis für den Zusammenhalt, schrumpfe und es trete die Spaltung der Gesellschaft immer deutlicher zutage. Reiter und Wilkes zeigen zunächst die Ursachen auf, die zum wirtschaftlichen Abstieg führten, wobei sie immer veranschaulichende Reportageelemente und Lösungsvorschläge einbauen, was das Buch auch für wirtschaftliche Laien gut lesbar macht. Vieles ist bekannt: übermäßige Bürokratisierung, mangelnde Digitalisierung, eklatante Fehlentscheidungen bei Autoindustrie und Deutscher Bahn, Vernachlässigung der Infrastruktur. Und schließlich die falsche Einschätzung der Bedrohung durch Russland, die zu einem energiepolitischen Desaster und der Vernachlässigung der Bundeswehr geführt hat. Alles geschah den Autoren zufolge vor dem gleichen Hintergrund – die Deutschen mögen keine Veränderung. Merkel hätte vor der Wahl 2005 sehr wohl im Blick gehabt, dass Deutschland umfassenden Wandel brauche, aber diese Forderung kostete sie Stimmen: Merkel und ihr Team nahmen sich diese Lektion zu Herzen. Von nun an war sie eine andere Politikerin und stand nicht mehr für Wandel, sondern für Stabilität. Quelle: Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt Wie die gesellschaftliche Spaltung überwinden? Außen-, Energie- und Klimapolitik seien bis heute kurzfristiger Vermehrung des Wohlstandes verpflichtet und es wurde das Ziel verfehlt, Deutschland langfristig wirtschaftlich fit zu machen, urteilen die beiden. So vergrößerte sich die Schere zwischen Arm und Reich, das Bildungssystem ermögliche keinen sozialen Aufstieg, das Gesundheitssystem begünstige Wohlhabende und vor allem sei durch bürokratische Vorgaben und Steuern für die Mehrheit der Menschen anders als in anderen EU-Ländern kein Wohneigentum mehr möglich. Da wollen Reiter und Wilkes ansetzen – mit einem großangelegten, partizipativen Programm für preiswerten Wohnraum, das die gesellschaftliche Spaltung überwinden helfen soll. Die groben Linien skizzieren sie im Buch. Das Programm bietet eine Hilfestellung bei der Vermögensbildung und könnte zugleich die soziale Ungleichheit bekämpfen. Die Gesellschaft würde auch indirekt davon profitieren, da zusätzlicher Wohnraum den Wohnungsmarkt entspannt. Darüber hinaus würde es die Stimmung im Land heben, denn es wäre ja ein Beleg dafür, dass Fortschritt im traditionsverhafteten Deutschland doch möglich ist. Quelle: Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt Reformen der Vermögens- und Erbschaftssteuer Finanzieren wollen sie das Ganze über Reformen der Vermögens- und Erbschaftssteuer. Ein neues Deutschland während einer sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Krise aufzubauen, wird nicht leicht vonstattengehen. Aber was ist die Alternative? Wenn man diese Probleme nicht angeht, öffnet man den völkischen Nationalisten die Tore noch weiter. Quelle: Chris Reiter und Will Wilkes – Totally kaputt? Wie Deutschland sich selbst zerlegt Chris Reiters und Will Wilkes' Buch “Totally kaputt. Wie Deutschland sich selbst zerlegt“ macht noch weitere Reformvorschläge und es wäre wünschenswert, dass Politik und Gesellschaft sie diskutieren.…
Der Horror des „Großen Sprungs nach vorn“ – eine verheerende Hungersnot mit Millionen Toten – war erst einige Jahre her, da setzte Mao den nächsten Schrecken in Gang: die Kulturrevolution. Mit fortgesetztem Klassenkampf, Personenkult und Roten Garden gegen die selbstverschuldete Krise. Der Schriftsteller Wang Xiaobo, geboren 1952, wurde damals als Achtzehnjähriger zur Landarbeit in die chinesische Provinz verschickt. Das geschieht auch seinem Alter Ego, dem Studenten Wang Er, der bitter feststellt: Ich bin einundzwanzig. Das Goldene Zeitalter meines Lebens. Ich hatte eine Menge extravaganter Träume, ich wollte lieben, ich wollte essen (…). Erst später wurde mir klar: Leben heißt, dass man in einem langen, qualvollen Prozess die Eier zertrümmert kriegt. Quelle: Wang Xiaobo – Das goldene Zeitalter Der Roman „Das goldene Zeitalter“ ist ein Aufbegehren gegen diese Kastrationsdrohung. Wenn Wang Er von der Zeit in der Produktionsbrigade berichtet, ist deshalb weniger von der Sklavenarbeit die Rede als von renitenten und drastisch erzählten Liebesfreuden. Seine Partnerin dafür ist die hübsche junge Ärztin Chen Qingyang. Ein „ausgelatschter Schuh“ Zur Strafe für die Abweisung der Avancen eines Militärkaders hat man sie ebenfalls aufs Land geschickt und ihr den Ruf angeheftet, ein „ausgelatschter Schuh“ zu sein – eine Frau mit lockerer Sexualmoral. Wang Er, der Chen wegen seiner vom Reispflanzen verursachten Rückenschmerzen aufsucht, rät ihr ab, nun demütig in Sack und Asche zu gehen. Sie solle den schlechten Ruf stattdessen als Privileg nutzen. Empört gibt ihm Chen eine Ohrfeige, taucht aber bald wieder bei Wang auf, um gemeinsam den Schuh auszulatschen. Daraufhin hat das Paar bald die Rituale von öffentlicher Anprangerung und Beschimpfung, Selbstkritik und Umerziehung auszustehen. Wang wird verhaftet, er kann sich aber wieder freischreiben durch Schuldbekenntnisse – möglichst detaillierte Schilderungen der unehelichen sexuellen Aktivitäten, die die Parteibürokraten lesen wie einen erotischen Fortsetzungsroman. Eigentlich hätten wir für unsere furchtbaren Verbrechen standrechtlich erschossen werden müssen, und es war allein der großen Gnade der Kader zu verdanken, dass wir nur Geständnisse schreiben mussten. (…) Die Kader behaupteten immer, meine Geständnisse seien nicht gründlich genug, ich müsse noch mehr gestehen. Quelle: Wang Xiaobo – Das goldene Zeitalter Trotzkopf im Kollektiv Gegen den Kollektivismus lässt Wang Xiaobo einen individualistischen Trotzkopf antreten, der weniger vom großen Mao als vom „kleinen Mönch“ in seiner Hose angetrieben wird, wie das Kosewort für seinen unermüdlichen Freudenspender lautet. Die phallische Protzerei wird mit viel Charme, halb naiv und halb schlitzohrig, vorgetragen. Wie jeder gute Schelmenroman ist „Das goldene Zeitalter“ in der Ich-Form erzählt, als handelte es sich um eine höchst authentische Autobiographie. In drei Teilen und in zeitlich verschachtelter Erzählweise werden die wichtigen Episoden und Erlebnisse aus Wang Ers Leben geschildert. Von Kind auf stellt er sich quer, eckt an in der Schule. „Der Bengel ist wie ein böser Erdgeist“, jammert sein Vater, schon als Frühgeburt in den Hungerjahren habe er ausgesehen wie eine „Abwasserratte“. Ein nicht ganz freiwilliger Selbstmord Trotzdem ist Wang Er später clever genug, eine Stelle als Biologiedozent zu ergattern. Von den merkwürdigen Zuständen an seinem Institut handelt der zweite Teil, der dritte dann unter anderem vom degradierten Herrn He, der eines Tages – wohl nicht ganz freiwillig – aus dem Fenster springt, einer der zahllosen „Selbstmorde“ zur Zeit der Kulturrevolution. Auch wenn der Roman erst jetzt (und sehr gut) von Karin Betz ins Deutsche übersetzt worden ist – in China ist er seit langem ein Kultbuch, das zunächst nur in Taiwan veröffentlicht werden konnte. Dass er heute in China geduldet wird, hat damit zu tun, dass die Epoche der Kulturrevolution inzwischen auch parteioffiziell als schwere Verirrung beurteilt wird. Wie auch immer – „Das goldene Zeitalter“ ist gelungene und gewitzte Literatur.…
Auf den Komponisten Arnold Schönberg geht das Bonmot zurück, dass Kunst nicht von ‚Können‘, sondern von ‚Müssen‘ komme – womit er vor allem die Vorstellung dekonstruierte, ein souverän agierender und in sich ruhender Mensch handle frei von materiellen Sorgen und körperlichen Beschwerden im Dienste des Guten, Wahren, Schönen. Dass große Kunst jedoch immer auch mit Schmerzen, Versagensängsten und unbeherrschten Gefühlsausbrüchen zu tun hat, dafür steht wie kaum ein anderer der Florentiner Benvenuto Cellini, von dessen Autobiographie Goethe nicht zuletzt deshalb begeistert war – und sie ins Deutsche übersetzte –, weil Cellini sein Leben selbst zum Kunstwerk stilisierte. Und dies ist auch der Ansatz, unter dem der Kunsthistoriker Andreas Beyer dem Goldschmied und Bildhauer Cellini ein Buch widmet, das den Untertitel ‚Ein Leben im Furor‘ trägt. Nicht nur die Werke des Florentiners stehen hier im Mittelpunkt, sondern vor allem die Umstände, die sie entstehen ließen. Und zu diesen gehört ein überaus widersprüchlicher und aufbrausender Charakter, den Giuseppe Baretti, der Wiederentdecker der Autobiographie des Künstlers, wie folgt beschrieb: „Kühn wie ein französischer Artillerist, rachsüchtig wie eine Viper, überaus abergläubisch, voller bizarrer Einfälle und Launen.“ Dem Herrscher ebenbürtig Und gewalttätig war er: Andreas Beyer schildert die Umstände der drei Morde, die Cellini im Laufe seines Lebens beging und die immer im Zusammenhang mit der Entstehung eines seiner Werke standen. Es sind diese Werke – ob das berühmte ‚goldene Salzfass‘ für den französischen König François I oder der die Medusa tötende Perseus für den Medici-Herzog Cosimo I. –, welche dem Künstler in der frühen Neuzeit eine dem souveränen Herrscher ebenbürtige Stellung verschafften, nämlich über dem Gesetz; mit den Worten Andreas Beyers: Die plenitudo potestatis des Künstlers, seine nur Fürsten vergleichbare Souveränität, findet in Cellini einen ihrer selbstbewusstesten Träger. Quelle: Andreas Beyer – Cellini. Ein Leben im Furor Der Künstler als Verbrecher Andreas Beyers Berliner Kollege Horst Bredekamp hat vor einigen Jahren den bezeichnenden Titel „Der Künstler als Verbrecher“ für einen Vortrag gefunden, in dem er die Ästhetik vieler Künstler der frühen Neuzeit – wie Veit Stoß, Michelangelo oder Bernini – als Garantin ihrer Rechtsenthobenheit analysierte. Und Beyer zeigt, wie radikal diese Kunst-Souveränität von Cellini beansprucht und gelebt wurde. Gleichzeitig macht er deutlich, dass diese Sonderstellung Ausdruck eines überaus modernen Künstler-Selbstbewusstseins ist – modern im Sinne der berühmten Pariser Querelle des 17. Jahrhunderts, in der die Überlegenheit des französischen Klassizismus über die Antike gepriesen wurde. Mehr als ein Jahrhundert früher preist der französische König Cellinis Jupiter-Darstellung dafür, dass dieses Werk jedem Vergleich mit antiken Vorbildern nicht nur standhalte, sondern diese sogar überträfen. Daneben betont Beyer einen anderen, nicht weniger wichtigen Aspekt dieses exemplarischen Künstlerlebens, wenn er von der „künstlerischen Übertragungsleistung“ Cellinis spricht; mit dieser habe er offenbar kompensiert, was er weder öffentlich leben noch verbal zum Ausdruck bringen konnte. So manifestiert sich laut Beyer im ‚Perseus‘, der bis heute eine der Attraktionen der Loggia dei Lanzi im Herzen von Florenz ist, die Einlagerung der erotischen Energie des Künstlers als symbolischer Schöpfungsakt: Cellini hat das Primat der unmittelbaren Herleitung der Kunst aus der Natur betont und so die zeitgenössische Doktrin von der nur geistigen Hervorbringung der Kunst konterkariert. Quelle: Andreas Beyer – Cellini. Ein Leben im Furor Einzelgänger und Außenseiter À propos erotische Energie: Wie frauenverachtend, ja gewalttätig der bis in sein 62. Lebensjahr ewige Junggeselle Cellini war, erläutert Beyer an verstörenden Erzählungen aus diesem Leben, als dessen Konstante Uwe Neumahr in seiner 2021 zum 450. Todestag erschienen Cellini-Biographie den ewigen Kampf ausmachte. Ein Kampf, den er womöglich kämpfen musste, weil er ihm die Energie zu seiner außergewöhnlichen Kunst gab – die er schaffen musste. Als einen notorischen Einzelgänger und ewigen Außenseiter beschreibt ihn Andreas Beyer im letzten Satz seines Buches – und als einen, „der in seiner Vereinzelung zur Essenz modernen Künstlertuns geworden war.“…
Regen. Salzwasser. Wellen. Schon die ersten Bilder – oder sollte man sagen Elemente? – in Etel Adnans Band „Hochbranden“ ziehen einen hinein in das evokative Universum dieser Dichterin und Denkerin. Es sind sinnstiftende, da programmatische Bilder. Denn wie Wellen und das Meer kräuseln sich in diesem Band auch die Gedanken und Überlegungen in einer unendlichen Bewegung. Regen kehrt zum Klang seines Ursprungs zurück, wenn die Nacht sich ausbreitet; über dem Land ist die Nacht so lang wie die verlassenen Straßen einer Stadt ... oder der Weg zu fernen Galaxien. Quelle: Etel Adnan – Hochbranden Erkundungen über das Sein Tatsächlich ist „Hochbranden“ eine tiefgründige Erkundung von grundlegenden Fragen des Seins: Was ist Identität? Was ist Realität? Wo sind die Grenzen unserer Wahrnehmung und unseres Selbst? Der Band ist zusammengesetzt aus einem längeren Prosa-Gedicht und einem dreiteiligen Zyklus mit dem Titel „Gespräche mit meiner Seele“. Was die Texte eint, ist die fragmentarische Form des philosophischen Aphorismus. Niemand weiß, woraus das Leben entspringt, aber es entspringt, wie die Realität aus einem Heidegger-Buch. Normalerweise sehe ich einen Teppich auf dem Boden, Stühle, wahrscheinlich einen Hund, ganz einfach. Und wahrscheinlich alles falsch. Quelle: Etel Adnan – Hochbranden Immer wieder versinnbildlicht Adnan mit solch unerwarteten Wendungen: Es gibt keine eindeutigen Antworten auf die großen existentiellen Fragen. Im Gegenteil: Fast lustvoll bricht die Autorin mit der Illusion, es gäbe so etwas wie ein letztes Wissen. Spirituelle Gelassenheit, kindliche Neugier Spirituelle Gelassenheit ist deshalb in diesen Texten ebenso zu vernehmen wie Adnans lebenslang ungetrübte, fast kindlich anmutende Neugier auf alles, das sie umgibt: vom Nebel im geliebten San Francisco bis zum Mond am fernen Horizont. Zugleich ist nichts darin reine Abstraktion: Etel Adnan war bereits 93 Jahre alt bei Erscheinen des Bandes. Alles, worüber sie schreibt, ist durchtränkt von den Erfahrungen ihres langen Lebens. Dazu zählt auch das Nachdenken über den Tod: Wir spüren nur zu gut dieses Hochbranden einer Angst in der Obskurität der Organe, diese Obskurität, diesen inzestuösen Schmerz. Quelle: Etel Adnan – Hochbranden Das Grenzenlose denken. Denken ohne Grenzen Adnan weiß um diesen Schmerz. Aber indem sie sich selbst in den endlosen Seins-Kreislauf von Vergehen und Werden einwebt, verweigert sie dem Tod die Macht über sich und ihr Denken. Dieses Denken ist grenzenlos – wie die Gezeiten. Überhaupt: Grenzen zu überwinden ist tief in die Poetik von Etel Adnan eingeschrieben. Berge steigen in uns auf, wie es die Sprache tut, machen aus der Analogie einen wesenhaften Teil des Denkens (somit des Daseins). Daher sind Berge Sprachen und Sprachen sind Berge. Wir sprechen beides. Quelle: Etel Adnan – Hochbranden Diese Grenzenlosigkeit erlaubt es Adnan auch, Poesie und politische Realitäten mühelos miteinander zu verbinden. So lässt sie mit nur wenigen Worten das Bild einer scheinbaren Idylle in die Versehrungen einer Welt münden, die von Krieg und Vertreibung heimgesucht ist. Züge zu nehmen, ist beruhigend: Ihr gleichmäßiger Rhythmus durchdringt die Landschaften, die sie durchqueren, während viele Flüchtlinge, die am Rande von Kriegen leben, diesen Rhythmus in ihren Adern tragen. Aber in einer Stadt anzukommen, ist eine andere Geschichte: Es bedeutet, Kriegsherren in die Arme zu laufen, die ganze Ortschaften niedergemäht haben. Quelle: Etel Adnan – Hochbranden Und doch: „Hochbranden“, von Klaudia Ruschkowski in ein glasklares Deutsch übertragen, spendet Trost: Denn auch Etel Adnans Liebe zu allem Seienden ist: grenzenlos. Wer sich mit ihr auf Reise begibt, ist gerüstet für eine ungekannte Zukunft.…

1 Sprechende Fische und heimliche Herrscherinnen: Neue Bücher u.a. von Dmitrij Kapitelman, Elisabeth Bronfen und Franzobel 55:00
Das lesenswert Magazin mit Büchern von Dmitrij Kapitelman, Elisabeth Bronfen, Franzobel und Tine Høeg sowie ein Comic-Projekt zum 7. Oktober
Der 7. Oktober als Zäsur „Wie geht es Dir?" Es ist erstaunlich, was eine so kleine Frage alles zum Vorschein bringen kann. „Von Tag zu Tag verschieden“, antwortet die Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt Mirjam Wenzel. Die Comicszene zeigt sie an ihrem Lieblingsplatz im Museum, auf der Terrasse. Ein Polizeiwagen steht vor dem Haus. So Mirjam Wenzel: „Wir haben massive Kontrollen von Seiten der Polizei – Taschenkontrollen, Körperkontrollen. Vor uns stehen Polizisten mit Maschinengewehren vor beiden unserer Häuser. Das ist sozusagen eine ganz andere Art des Arbeitens." Der 7. Oktober sei für alle im Haus eine Zäsur, erzählt Mirjam Wenzel im Comic. Ihre große Sorge: das Museum nicht als offenen Ort der Begegnung erhalten zu können. Auf 16 kleine Bilderkacheln, schwarz-weiß mit Bleistift gezeichnet, hat die Karlsruher Comic-Autorin Julia Kleinbeck ihr Gespräch mit der Museumsdirektorin verdichtet. Künstlerische Energie gegen die Verzweiflung Seit einem Jahr gehört sie zur Kurationsgruppe des Comic-Projekts „Wie geht es Dir?“. Nach dem brutalen Überfall der Hamas habe sie sich über die rasche Lagerbildung auch unter den eigenen Kolleg*innen pro Israel bzw. pro Palästina gewundert. Sie erzählt: „Oft war ich erstaunt, dass so schnelle Antworten und einfache Antworten gefunden sind auf was, was ich immens komplex gerade finde oder wo ich noch nicht die schnelle Antwort habe und eben zeichnend versuche, mit den Fragen umzugehen. Und ich das Gefühl hatte, man muss darauf achten, dass es eine Vielstimmigkeit bleibt. Dass verschiedene Antworten zugelassen werden, möglich sind und dass man die auch aussprechen darf in der Verschiedenheit." 60 ganz unterschiedliche Stimmen kommen daher in diesem Comic zu Wort: Menschen, die von ihrer Verbindung zu einem Ereignis erzählen, das zwar weit weg in Israel stattgefunden hat, das sie aber nun in Deutschland einholt – mit antisemitischer Hetze, mit rassistischen Übergriffen und antimuslimischen Protesten. Im Netz und auf der Straße. Diese aggressive Stimmung hat auch Nathalie Frank schockiert. Die Comic-Autorin kommt aus der Nähe von Paris, lebt aber schon seit 2011 in Berlin und ist eine der Initiator*innen des Projekts: „Mich hat die Situation nach dem 7. Oktober, den Anfang von Gaza-Krieg und die Stimmung hier sehr verunsichert. Deshalb habe ich schnell entschlossen: anstatt den ganzen Tag Nachrichten gucken und verzweifelt sitzen, ein brückenbauendes Projekt in die Welt setzen, erschien mich eine sinnvolle Nutzung von meiner verzweifelten Energie." Vielstimmigkeit als Gestaltungsprinzip Brücken bauen, zum Dialog einladen – die Idee hat sich in der gut vernetzten Comic-Szene schnell herumgesprochen. Es gab gleich viele Zusagen, erinnert sich Münchner Comic-Autorin Barbara Yelin, die zum Kernteam des Projekts gehört. Das Konzept habe überzeugt: journalistische Interviews zu führen und diese dann künstlerisch umzusetzen, also auf eine Seite zeichnerisch zu verdichten. Die eigene Meinung spiele bei diesem Projekt keine Rolle, betont Barbara Yelin. Es gehe ums Zuhören, ums Lernen, um Solidarität: „Ich sehe uns als Gesellschaft in der Verantwortung, dass wir gegen den ansteigenden Antisemitismus einstehen. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt. Dass wir gegen den ansteigenden Rassismus einstehen. Was wir mit unserem Projekt versuchen, ist wirklich, persönlich, individuell Empathie zu schaffen, hinzuhören. Diese Vielstimmigkeit, dieses Zuhören auf verschiedene Seiten ist wirklich eine Herzensbildung, eine Menschenbildung und ein Lernen und vor allem ein In-Kontakt-Bleiben." Vielstimmig und vielschichtig erweist sich dieses Comic-Projekt tatsächlich: es sind jüdische, yezidische, deutsch-türkische und deutsch-palästinensische Stimmen dabei, Jung und Alt, Professoren, Kulturwissenschaftlerinnen, Friedensaktivisten, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und Musiker und andere mehr. Und trotz der extremen Verdichtung eines in der Regel mehrstündigen Interviews auf wenige Comic-Bilder sind es sehr komplexe Episoden geworden, die ein genaues Hinsehen und Hinhören erfordern. Das habe sie auch gefordert, meint Comic-Autorin Julia Kleinbeck: „Manche Leute erzählen ja vermeintlich aus dergleichen Perspektive, haben aber – es sind ja individuelle Geschichten – einen ganz anderen Blick oder andere Schwerpunktsetzung. Und dass das alles Platz haben kann. Stärkend auch der Blick, sich selbst als Zeichnerin noch einmal zu hinterfragen. Wir wurden ja auch begleitet im Bereich des Sensitiv Reading selber noch einmal zu gucken, wie erzähle ich eigentlich, was habe ich eigentlich für Bilder – das war eine sehr dichte Erfahrung." Bilder erzählen komplexe Lebensgeschichten Bekannte Namen sind darunter, aber auch Menschen, die lieber anonym bleiben wollen, um sich nicht zu gefährden. Benji zum Beispiel, 1997 in Berlin geboren, ein „jüdischer Berliner“, die Eltern sind als jüdische Kontingentflüchtlinge in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen. Dass Benji nicht erkannt werden will, hat tiefe Wurzeln, wie Comic-Autorin Nathalie Frank bei ihrem Interview erfahren hat: „Was mir vorher nicht klar war: er hat erzählt, dass seine Eltern ihm verboten haben als Kind zu erzählen, dass er jüdisch ist in der Schule in Berlin in den 90er Jahren. Das ist ein Teil der Realität des jüdischen Lebens, die mir nicht bewusst war. Und ich dachte, dann ist es wahrscheinlich vielen nicht bewusst und sie sollten das wissen, dass das die Realität ist." Dabei hat die Journalistin Nathalie Frank selbst jüdische Wurzeln: die Geschichte ihrer Großmutter, die als junges Mädchen nach Frankreich fliehen musste, ist ebenso in das Projekt eingeflossen wie das Empfinden der Autorin und Übersetzerin Rasha Khayat. Eine Frau mit internationalem Hintergrund: in Deutschland geboren, Kindheit in Saudi-Arabien verbracht, um dann wieder in die alte „Heimat“ zurückzukehren. So Khayat: „Das ist ganz ganz schwer auszuhalten für jemanden wie mich. Wenn man von außen immer wieder diese Message bekommt: wer man zu sein hat oder wer man nicht zu sein hat. Also das hat mich in so eine Art Identitätskrise gestürzt. Vielleicht war es auch naiv, dass ich immer dachte: Ach, komm, irgendwie gehöre ich doch zu Deutschland dazu. Aber auf einmal hatte ich wieder das Gefühl: wie als ich mit 11 Jahren nach Deutschland gekommen bin – ich gehöre hier nicht dazu. Ich werde immer das Andere sein." Wut und Trauer mischen sich in dieser Erkenntnis. Comic-Autorin Barbara Yelin zeichnet ihre Interviewpartnerin Rasha Khayat beim Schwimmen. Ein Ort, um Kraft und neue Gedanken zu fassen. „Wie geht es Dir?“ – eine kleine Frage nur, die bei diesem wertvollen, sehr gelungenen Projekt ganze Horizonte öffnet. Und bei aller Unterschiedlichkeit auch Verbindendes entdeckt: „Diese Frage, wie geht es Dir, war wirklich auch ne überraschend wichtige Einstiegsfrage. Weil wir damit ja auch nicht nur individuelle Sichtweisen bekommen, sondern was auch immer wieder klar wurde, waren Gemeinsamkeiten. In so vielen dieser Comics war gemeinsam: der Wunsch nach Frieden.…
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